© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Kampf gegen Windmühlen
Ins Ausland entzogene Kinder: Trotz klarer Rechtsprechung muß Anatol auf seinen Sohn verzichten
Verena Inauen

Noch kein ganzes Jahr war Emil alt, als er 2013 von seinem Vater getrennt und in die Ukraine entführt wurde. Die Mutter des Jungen hält ihren Sohn bis heute gegen alle gerichtlichen Urteile fest und schirmt ihn vom verzweifelten Vater in Deutschland ab. 

Was die Mutter Iryna dazu veranlaßte, mit ihrem Sohn von Deutschland wieder in die Ukraine zu ziehen, wissen wir nicht. Für eine Stellungnahme war sie nicht zu erreichen. Der Vater Anatol berichtete der JUNGEN FREIHEIT aber seine Version der tragischen Geschichte um den kleinen Emil Jung. 

Nur willkürliche und ohne Begründung angeordnete sechs Stunden im Monat stehen ihm derzeit mit seinem Nachwuchs zu. Diese verlaufen unter ständiger Beobachtung, Filmaufnahmen und provokanten Äußerungen der Mutter und Großmutter in einer ukrainischen Wohnung. 

Gerichtsurteile werden nicht umgesetzt 

Trotz eines internationalen Haftbefehls für die Mutter und eindeutiger Gerichtsurteile von der Münchner Staatsanwaltschaft, dem Münchner Amts- und dem Kiewer Bezirksgericht, die ihm das alleinige Aufenthaltsbestimmungs- und medizinische Sorgerecht zusprachen, werden die Urteile nicht in die Tat umgesetzt. 

 „Iryna und die Menschen dort leben für heute, maximal noch für morgen, aber was in zehn Jahren mit Emil passieren wird, kümmert niemanden“, schildert Anatol Jung die Zustände in dem immer noch stark sowjetisch geprägten Land. Anatol nimmt jeden Monat horrende Kosten und Mühen auf sich, um seinen Sohn in der Ukraine zu besuchen. Auf einer eigenen Internetseite schildert er in einer Chronik das ganze Ausmaß der internationalen Tragödie. 

Allein ist er mit seiner Verzweiflung aber nicht. Während Anatol bundesweit nach Unterstützung in seinem Kampf gegen Windmühlen sucht, trifft er auf Uwe, dessen Tochter Sabina ebenfalls von der Mutter ins Ausland verschleppt wurde. Hilflos mußte auch Uwe trotz eindeutiger Rechtsprechung zu seinen Gunsten dem Abtransport seines Kindes an einen unbekannten Ort zusehen. Ähnlich ergeht es dem Vater der kleinen Zofia aus Niederbayern, die in die Donezker Krisenregion verschleppt wurde. 

Ukrainische Hilfsorganisationen sprechen von 400 Kindern aller Nationalitäten, die derzeit illegal und ohne Aussicht auf Rückführung im Land festgehalten werden. Die Ukraine ist aber längst nicht das einzige Land, wohin Kinder und Jugendliche verschleppt werden. In einem nicht veröffentlichten Quartalsbericht hält das Bundeskriminalamt regelmäßig die Zahlen aller vermißten Kinder fest. Rund 470 Minderjährige gelten dabei als „im Inland“ entzogen. 578 „entzogene Minderjährige“ werden aber im Ausland festgehalten, erklärt das BKA auf Nachfrage. Viele davon in arabischen Ländern, die auch keine bilateralen Abkommen mit Deutschland haben und nach dem islamischen Recht vom Vater festgehalten werden. Die deutsche Regierung nimmt ihre Pflicht zum Bürgerschutz und zur Geltendmachung des Völkerrechts zwar nach bestem Wissen und Gewissen wahr, ein Gefühl der Ohnmacht begleitet die verzweifelten Eltern aber trotzdem. Die Botschaft Deutschlands an die Ukraine und die übrigen Länder der Welt sei laut Anatol allerdings ganz klar: „Das amtliche Deutschland steht für seine entführten Kinder und ihre zurückgelassenen Väter und Mütter nicht ein.“

Als sich Iryna und Anatol 2010 beim Wandern trafen und bald darauf ein Paar wurden, ahnte der künftige Vater noch nichts von der offenbar kriminellen Energie seiner Frau. Anatol studierte in Deutschland Physik und ist im Eisenbahningenieursbereich tätig. Im Rahmen der Familienzusammenführung wandert nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Emil auch Iryna nach Deutschland ein und verpflichtet sich zu den amtlich vorgeschriebenen Integrationsmaßnahmen. 

Während ihr Sohn zu einem deutschen Staatsbürger wurde, zeigte die Mutter Vater Anatol zufolge aber einen immer stärkeren Haß auf ihre Umgebung, schirmte das Kind ab und ließ keine Vorsorgeuntersuchungen mehr durchführen. Alles und jeder wolle ihr 

Emil wegnehmen, das deutsche Gesundheitssystem sei tödlich für Kleinkinder und Deutschland ein von Grund auf schlechtes Land, behauptete sie gegenüber ihrem Ehemann. 

Schließlich schob Iryna eine sechswöchige Reise in ihre alte Heimat vor, um mit Emil für immer aus Anatols Leben zu verschwinden. Dieser reiste sei-

nem Sohn zwar nach, aber weder 

die ohne Einkommen bei ihrer pensionierten Mutter lebende Iryna noch ihre übrige Familie zeigten sich gesprächs- oder kompromißbereit. Den ersten Geburtstag durfte der Vater nicht mehr mit seinem Sohn verbringen. Schweren Herzens stellt Anatol einen amtlichen Rückführungsantrag. 

Das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) sollte ihm recht geben. Der multilaterale Vertrag, den auch die Ukraine unterzeichnete, entscheidet in Fällen einer Kindesentführung, die zumeist von den Eltern selber begangen wird, über den zukünftigen Verbleib der Minderjährigen. Innerhalb eines Jahres muß der Antrag auf Rückführung gestellt werden, um das Recht des klagenden Elternteils über internationale Grenzen hinweg geltend zu machen. Ansonsten könnte sich das Kind bereits in der neuen Umgebung eingelebt haben. 

Anatol stellt seinen Antrag nur wenige Wochen nach der tatsächlichen Entführung. Das Recht auf eine Rückführung des Kindes binnen sechs Wochen bekommt Anatol theoretisch zugesprochen. Praktisch verweigert die Mutter aber die Herausgabe des Kindes bis heute. Als Iryna von den gerichtlichen Entscheidungen erfährt, greift sie tief in die Trickkiste und bezeichnet ihren Ehemann als Sadisten, Säufer, Kinderschänder und Gewalttäter. 

Anatol wird nicht müde, diese Behauptungen zu entkräften. Nichts davon treffe auf ihn zu. In den vergangenen Jahren konnten ihm aber weder deutsche, europäische und noch weniger ukrainische Instanzen zu seinem Recht verhelfen. In seinem Tagebuch, das einmal sein Sohn bekommen soll, hielt er die wichtigsten Momente in seinem Leben fest. Regelmäßige Botschaften an seinen Sohn, die ihn nie erreicht haben, fallen auch darunter. Er wußte eine Zeitlang nämlich nicht einmal, wo sich sein Sohn befand. Nach dem ersten Befreiungsversuch in Kiew, welcher für Anatol mit einem Blick in den Pistolenlauf eines Polizisten endete, hatte die Mutter das übrige Hab und Gut ihres Sohnes gepackt und war mit ihm an einen unbekannten Ort gereist. Erst polizeiliche Anordnungen und Ermittlungen von Interpol konnten den Aufenthalt von Emil auf der umkämpften Krim feststellen. 

Um die Rückführung ihres Sohnes aber mit allen Mitteln zu verhindern, sperrte Iryna den damals zweijährigen Buben erstmals ein, als der Vater zu Besuch kam. Zwischenzeitlich meldete sich sogar Irynas Schwager beim Vater und erklärte ihm, daß die Kindsmutter die Tat von langer Hand geplant habe und sich die rechtsfreien Räume auf der damals umkämpften Krim zunutze mache. Zahlreiche Hilfegesuche an das deutsche Kanzleramt, die deutsche Botschaft in Kiew, die Europäische Union oder den Auswärtigen Ausschuß des Bundestages blieben erfolglos. Das für Emils Fall zuständige Justizministerium in Kiew wurde zwischenzeitlich von Demonstranten im Zuge der Ukrainekrise 2014 besetzt und verwüstet. Aufgrund „technischer Probleme“ könne das Verfahren gegen Iryna darum nicht eröffnet werden, teilte das ukrainische Justizministerium nach einigen Monaten mit. Die deutsche Botschaft hielt sich hierzu angeblich „aus Gründen der Nichteinmischung“ bedeckt.

Ämter schieben Fall Emil hin und her  

Die angeblich sehr gute Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Ukraine reicht in vielen Fällen bis heute nicht so weit, um geltendes Recht durchzusetzen. Auch die deutsch-ukrainische Bürgerrechtsbewegung „Civic Center for Strategic Initiatives“ und deren Anwalt Sergey Stamplevsky stellen schwere Rechtsbrüche ihres Landes fest, welche sie als „typische Ausläufer des sowjetischen Totalitarismus“ bezeichnen, während sich die Ukraine der EU annähern möchte. Mehr als einmal versuchte der Vater darum bereits vergebens, seinen Sohn eigenhändig wieder nach Deutschland zurückzubringen. 

Von den versprochenen juristischen Annäherungen spürt Anatol Jung derzeit allerdings wenig. Sein Fall wird hin und her geschoben, niemand fühlt sich zur Durchsetzung der klaren Rechtsprechung verantwortlich. Sein Vater wird dem heute Vierjährigen mit zunehmendem Alter immer fremder. 

Iryna erzähle Emil offenbar vor jedem Besuch von einem „Herrn Jung“, aber keineswegs vom leiblichen Vater. Das bekommt Anatol auch zu spüren. Der Junge spielt zwar aufgeweckt mit ihm, eine Bindung aufzubauen ist in den wenigen von Iryna tolerierten Besuchsstunden aber kaum möglich. Auch umgekehrt fällt es Emil schwer, sozial zu interagieren oder eine Bindung zu außenstehenden Personen aufzubauen. 

Der Besuch des Kindergartens kommt für die Mutter nicht in Frage. Ein in der Ukraine angeordnetes medizinisches Gutachten stellte vor kurzem neuroseartige Zustände, verzögerte Sprachentwicklung und eine nicht altersgemäße Entwicklung des Jungen fest. Auch der im Frühling mit seinem Sohn Anatol in die Ukraine gereiste Eberhard Jung, ein erfahrener Neurologe und Psychotherapeut sowie ehemaliger Direktor einer Landesnervenklinik, zog eine erschreckende Bilanz: „großer Entwicklungsrückstand, fein- und grobmotorische Defizite, medizinische Vernachlässigung und Anzeichen von Mangelernährung, strenge Isolation, Einschüchterung und Unterdrückung familiärer Bindungen.“ Zum Wohl des Kindes forderte er die Staaten vergeblich dazu auf, ihr Eigeninteresse hinten anzustellen und die tolerierte Kindesmißhandlung zu beenden. 

„Wenn ich die Wohnung nach meinem kurzen Besuch wieder verlasse, läuft mir Emil hinterher. Iryna schleift ihn dann am Kragen in das Schlafzimmer und sperrt ihn ein“, verzweifelt Anatol. Mittlerweile bekommt er zwar Unterstützung von der lokalen Stadtpolizei, um die wenigen Besuche reibungslos zu ermöglichen, die Chancen, seinen Sohn zurück nach Bayern zu holen, stehen aber denkbar schlecht. Die letzte Stellungnahme des Auswärtigen Amtes in Berlin schickte Anatol Jung wieder an den Anfang seiner Bemühungen: zuständig seien ukrainische Behörden und nicht Deutschland. Mit „den besten Wünschen für Ihren Sohn“, schloß der zuständige Ministerialdirigent das Schreiben.





Sorgerechtsfälle nehmen zu 

Mit der steigenden Anzahl von Ehen und Lebensgemeinschaften zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität haben nach Angaben des Bundesamtes für Justiz auch die Streitigkeiten um die elterliche Sorge für Kinder aus solchen Beziehungen zugenommen. Dabei sei die Neigung von Elternteilen, nach der Trennung von dem anderen den Staat des gemeinsamen Wohnsitzes mit den gemeinsamen Kindern ohne entsprechende Sorgerechtsregelung eigenmächtig zu verlassen, „deutlich gewachsen“. Deutschland ist Vertragsstaat zweier internationaler Abkommen, die Regelungen vorsehen, um widerrechtlich ins Ausland verbrachte Kinder an den Ort ihres „gewöhnlichen Aufenthaltes“ zurückzubringen. Wichtigstes Abkommen ist das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen (HKÜ). In allen Ländern, die das HKÜ unterzeichnet haben – darunter auch die Ukraine und mit Vorbehalten Rußland –, wurden eigene Behörden benannt, an die sich betroffene Elternteile wenden können, um einen Antrag auf Rückführung eines Kindes zu stellen. In Deutschland ist diese Behörde beim Bundesamt für Justiz angesiedelt (Zentrale Behörde für internationale Sorgerechtskonflikte, Adenauerallee 99–103, 53113 Bonn, Tel.: 0228 / 99 410-52 12).

www.bundesjustizamt.de/