© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Die englischen Felle schwimmen davon
Brexit: Sorge um deutsche Exportwirtschaft / Banken- und Firmenabwanderung in Großbritannien / Setzt Tory-Regierung auf Steuerdumping?
Albrecht Rothacher

Daß der Brexit Deutschland schadet, war schon vor dem Referendum am 23. Juni absehbar. Auch die Warnungen der Bank of England vor einem Pfund-Absturz (JF 25/16) haben sich bestätigt: Die britische Währung fiel um über 15 Prozent gegenüber Euro und Dollar. Das macht deutsche Exporte teurer – und gefährdet hiesige Arbeitsplätze: 2015 lieferten deutsche Firmen Waren im Wert von 89,3 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich.

Umgekehrt hätten aber die britischen Ausfuhren boomen müssen. Doch der Exportaufschwung trat nicht ein, denn die Briten, die zu 80 Prozent nur noch von Dienstleistungen leben, haben keine wettbewerbsfähige Industrie mehr. Nur der Tourismus gewann. Gleichzeitig wurden Importe über zehn Prozent teurer, vom Benzin, über Wein, Kaffee, Tee bis zum beliebten Brotaufstrich „Marmite“, was in Summe einen Kaufkraftschwund von drei Prozent bewirkte. Dies trifft vor allem jene, die mit einem Jahreseinkommen von umgerechnet 23.000 Euro zur neuen sozialen Großgruppe „Jam“ (just about managing) gehören, sich also gerade so bis Monatsende durchschlagen und die mit ihrer Frustration entscheidend zum Brexit-Votum beigetraten haben.

Es droht der Teufelskreis der Vor-Thatcher-Ära

Während sie das Manna von der Einsparung des britischen EU-Beitrags (sieben Milliarden Euro) erwarteten, zahlen sie nun die Zeche. Um ihren Zorn abzuwenden, erhöhte die Tory-Regierung von Theresa May den Mindestlohn im Oktober auf 7,20 Pfund (8,52 Euro), ab April 2017 sollen es dann 7,50 Pfund (8,87 Euro) sein. 40.000 neue Sozialwohnungen sollen gebaut werden – bei einer stagnierenden Wirtschaft: das Etatdefizit steigt auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Staatsschulden klettern von 85 auf knapp 90 Prozent des BIP. Das ist zwar weniger als in den USA (107 Prozent), aber ein Viertel mehr als in Deutschland.

Der Teufelskreis der Vor-Thatcher Ära wirft seine Schatten voraus: Abwertung – Inflation – öffentliche Schulden – Stagnation – Verlust der Wettbewerbsfähigkeit – Verarmung. 2017 soll die Wirtschaft nach Schätzung von 47 britischen Banken nur um 0,6 Prozent wachsen – und wenn unser drittgrößter Absatzmarkt schwächelt, betrifft das die deutsche Wirtschaft ebenfalls. Das erklärt, warum deutsche Firmenlenker mit der harten Brexit-Haltung in Berlin und Brüssel – ähnlich wie bei den Rußland-Sanktionen – hadern. Internationale Großbanken packen in London bereits ihre Koffer: BNP Parisbas will zurück nach Paris, Goldman Sachs nach Frankfurt und Citibank nach Dublin. Denn beim Brexit verlieren sie ihren „Bankenpaß“, der notwendig ist, um auf dem Kontinent ohne eine dortige Muttergesellschaft Geschäfte zu machen.

Margaret Thatcher hatte nach dem Untergang von British Leyland Toyota, Honda und Nissan nach England geholt. Sie bedienen von dort aus den EU-Markt von 500 Millionen Verbrauchern. Die verarmten Britischen Inseln interessieren die Japaner kaum. Zusammen mit Ford, GM (Vauxhall) oder BMW (Mini) rollen in diesem Jahr etwa 1,8 Millionen Autos aus britischen Fabriken. Doch auch sie hängen von teuer importierten Teilen ab. Und mit dem Brexit blüht ihnen ein EU-Importzoll von zehn bis 15 Prozent. Daher könnte die Produktion bis 2023 auf 910.000 Fahrzeuge sinken, prognostiziert die Unternehmensberatung PwC. Deshalb soll Theresa May beispielsweise Nissan staatliche Kompensationen versprochen haben, um den Standort Sunderland mit seinen 6.700 direkten und einem Mehrfachen an externen Beschäftigten zu halten.

Solche Subventionstricks fordern aber ein klassisches EU-Instrument heraus: Anti-Dumping-Zölle, wie sie derzeit hauptsächlich gegen China verwandt werden. Daher diskutiert London, die Unternehmenssteuern wie etwa in Irland auf 15 Prozent oder weniger abzusenken, obwohl dies die Steuereinnahmen zunächst weiter drücken würde, im Prinzip keine schlechte Idee. Deutschland und Frankreich hatten auf dem diesjährigen G-20_Gipfel Resolutionen gegen den Steuerwettbewerb durchgesetzt und von einem Kartell der Hochsteuerländer geträumt. Diese Seifenblase zerplatzt jetzt, nicht nur weil Irland, Zypern, Bulgarien, Slowenien oder Lettland, sondern auch Singapur, Taiwan und Hongkong sich nicht daran halten werden.

Das Ergebnis ist ein gesunder Steuerwettbewerb mit einer notgedrungen niedrigeren Staatsquote und weniger Anreiz zu steuerbedingten Fehlinvestitionen und Hinterziehungen. Die Briten scheinen damit – wie Donald Trump – Ronald Reagan folgen zu wollen: Steuerreduzierungen, hohe Staatsausgaben, hohes Wachstum, aber auch hohe Inflation und hohe Zinsen in der Folge. Aber was in den USA – mit großem Binnenmarkt und der Leitwährung Dollar – funktionieren kann, klappt in einem vom Kontinent amputierten England wohl kaum. Die Teilhabe am EU-Binnenmarkt ist daher eine Überlebensfrage.

Hintertür „Smart Brexit“ dank EWR-Vertrag?

Doch wollen sie dafür weder zahlen noch die Freizügigkeit für EU-Bürger zulassen. Beides haben Schweizer und Norweger akzeptieren müssen. „Brexit heißt Exit“, darin sind sich London und Brüssel einig. Die englische Denkfabrik British Influence glaubt nun eine Hintertür entdeckt zu haben: Die Londoner EU-Anhänger wollen juristisch dafür sorgen, daß das Vereinigte Königreich vielleicht die EU, aber nicht den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) verlassen kann. Artikel 127 des EWR-Vertrags verlange einen Austrittsantrag. Darüber sei beim Brexit nicht abgestimmt worden. Die 1992 gegründete Freihandelszone umfaßt derzeit die EU sowie Island, Liechtenstein und Norwegen. Und: Im EWR gelten über drei Viertel der EU-Binnenmarktvorschriften – darunter der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital.

Aber vielleicht kommt nicht einmal der „Smart Brexit“: Im Januar will der Oberste Gerichtshof in London entscheiden, ob nicht doch eine Entscheidung des britischen Parlaments nötig ist – und die Abgeordneten stehen dem Brexit mehrheitlich skeptisch gegenüber. Daher will die Premierministerin frühestens im März 2017 die Austrittsverhandlungen durch die Anrufung des Artikels 50 der EU-Verträge beantragen – sofern May bis dahin noch im Amt ist.

The British Influence Group: influencegroup.org.uk