© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Pekinger Verhältnisse
Paul Rosen

Das deutsche Wahlrecht ist kompliziert. Noch komplizierter wird das „personalisierte Verhältniswahlrecht“ mit 299 Wahlkreisen direkt gewählter Abgeordneter und den vom Grundsatz her auch 299 Listenmandaten, die über die Landeslisten der Parteien besetzt werden, nach der Stimmabgabe der Wähler. 

Dann kommen nämlich aufwendig zu berechnende Überhang- und Ausgleichsmandate hinzu. Das Ganze hat seine Ursache im deutschen Bestreben, totale Gerechtigkeit herbeizuführen und jeder (Zweit-)Stimme möglichst gleiches Gewicht einzuräumen. Denn wo kämen wir denn hin, wenn ein Wähler im Saarland mehr Stimmgewicht hätte als ein Berliner. 

Durch Verfassungsklagen und Gesetzesänderungen hat sich eine eigene Wissenschaft entwickelt, die außerhalb der Parteizentralen und der Bundestagsverwaltung kein Mensch mehr versteht. Wie so oft im Leben holten unerwartete Veränderungen, mit denen weder Verfassungsgericht noch Bundestagsparteien gerechnet hatten, die wahlrechtlichen Wolkenkuckucksheimer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. 

Der Versuch, eine möglichst große Einzelfallgerechtigkeit herzustellen, führt zu einer Aufblähung des Parlaments, das schon jetzt 630 Abgeordnete zählt. „Groß, größer, Bundestag“, spottete eine Zeitung über den Umstand, daß das 2017 zu wählende Parlament wegen der guten Chancen der AfD noch größer werden könnte. Hinzu kommt, daß die untote FDP parlamentarisch wieder lebendig werden könnte, was sechs Fraktionen im nächsten Bundestag bedeuten würde. 

Vor allem wegen des massiven CSU-Überhangs in Bayern werden möglicherweise ganz viele Überhang- und Ausgleichsmandate fällig werden, um das prozentuale Abschneiden der Parteien in den Mandatszahlen zu spiegeln. Das könnte den Bundestag auf bis zu 730 Mandate aufblähen. Das deutsche Parlament läge dann zwischen chinesischem Volkskongreß (2.987 Abgeordnete) und dem Parlament von Nordkorea (687) – nicht nur zahlenmäßig eine unangenehme Nachbarschaft. 

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hatte frühzeitig gewarnt und Korrekturen gefordert. Denn er weiß nur zu gut, daß so viele Abgeordnete sich gegenseitig im Wege stehen und gar nicht mit Aufgaben zu betrauen sind. Man kann Ausschüsse nicht auf 60 Mitglieder aufstocken. Dann ist keine ernsthafte Beratung mehr möglich. 

Zwar gibt es Vorschläge von Lammert und der SPD zur Lösung des Problems und zur Vermeidung von Mehrkosten von 100 Millionen Euro, die eine Vergrößerung auf 700 kosten würde. Doch die Beharrungskräfte sind stark. Wenn AfD und FDP die „neuen“ Mandate bekommen würden, gäbe es für die alten Abgeordneten keine Mandatsverluste, wird auf den Fluren des Reichstags spekuliert. Daß der Wähler dann kaum noch eine Auswahl unter den Abgeordneten mehr treffen kann und der Bundestag zum Pekinger Volkskongreß nicht nur zahlenmäßig aufschließen würde, sollte die Fraktionen anspornen, rechtzeitig eine Verkleinerung des Bundestages sicherzustellen.