© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/16 / 02. Dezember 2016

Drei Dutzend Einweckgläser
Auf Familienspuren im Sudetenland: Die Suche nach einem vergrabenen Koffer mündet in eine völlig unerwartete Entdeckung
Christian Rudolf

Spätsommer ’46. Millionen Sudetendeutsche sind aus ihrer angestammten Heimat vertrieben, Zehntausende von tschechischen Banden ermordet worden. Das Land liegt halb entvölkert da. Die Bauern von Zuckmantel haben gerade die Ernte eingebracht. Dann naht der 1. September. Nun steht auch den letzten verbliebenen Einwohnern der Kleinstadt in Mährisch-Schlesien die Deportation bevor. Sie müssen die Häuser ihrer Vorfahren verlassen. Viele schließen sorgsam die Fenster, drehen ein letztes Mal die Schlüssel im Haustürschloß um. Was wird morgen sein? Daß sie wiederkehren werden, steht für die Zuckmantler bei aller Ungewißheit außer Frage. Es ist ja ihre Heimat.

Sofie sieht im Ortsteil Miserich Schränke und Kammern durch. Packt für ihre drei Kinder und die Schwiegereltern das Allernötigste zusammen. Etwas Kleidung, Bettwäsche, Proviant für mehrere Tage. Lebensmittel sind das Wertvollste in dieser Zeit. Sie schickt den Sohn in den Kartoffelkeller, die Vorräte an eingemachter Marmelade und Saft in die Scheune zu schleppen. Dazu kommt ein kleiner Koffer mit Andenken und einem Fotoalbum. Die Einweckgläser sollen nicht den Tschechen in die Hände gefallen sein, wenn sie wieder zurückkehren. Am Vorabend der Ausweisung holt die 43jährige einen Spaten und beginnt zu graben ...

„Graben wollt ihr in der Scheune? Aber bitte sehr!“

Jahrzehnte später. Wieder wird in der Scheune gegraben. Es ist nicht Oma Sofie. Sie ist früh gestorben, ohne je die Heimat wiedergesehen zu haben. Einer ihrer Enkel gräbt. Dessen Vater liegt todkrank. Von den Weckgläsern hat er nie erzählt. Aber von dem Album. Und dem Koffer. Birgt er vielleicht Geheimnisse? Dem Vater eine Überraschung bereiten! Letzte Fragen stellen! Jetzt oder nie!

„Du, André, kannst du mit mir in den Heimatort meines Vaters fahren? Die Lage ist schlimm. Höchste Eisenbahn! Bitte!“ fragt der Enkel seinen Kollegen, der Tschechisch beherrscht. „Freitag fahren wir. Kannst dich drauf verlassen.“

Die beiden Freunde laufen vom Hotel durch das beschauliche Städtchen an den Ausläufern des Altvatergebirges. Freundlicher schlesischer Barock, die Kirchen mit Zwiebeltürmen.

Vor dem früheren Gehöft der Großeltern halten sie kurz inne. Ein zweistöckiger Neubau ersetzt das alte Wohnhaus. Aber die schindelgedeckte Scheune steht. Das ist das Wichtigste! „Wir erklären den Leuten, was wir möchten. Mehr als nein sagen können sie ja nicht.“

Ein Mann öffnet. Hört stumm zu, als die Fremden sich vorstellen. Ja, aus Deutschland. Der Vater stammt von diesem Hof. Der Alte winkt herein, bittet in die Küche. „Setzt euch doch. Und erzählt!“ Jiri brüht Kaffee auf. Aus dem großen Fenster geht der Blick über sonnenbeschienene Felder hügelan auf die Bischofskoppe. Hinter dem Gipfel lugt die Kaiser-Franz-Joseph-Warte hervor.

„Graben wollt ihr in der Scheune? Ježíš Maria! Aber bitte sehr, wo ihr schon mal da seid!“ Jiri schenkt den Gästen in die Schnapsgläser aus der Halbliterflasche Tuzemák ein und nötigt zum Trinken. Der heimische Rum lockert die Anspannung. Jiri ist in der Slowakei geboren, kam mit den Eltern in den Fünfzigern in die Bergarbeiterstadt. Die ehemalige Hofstelle im Miserich war für Siedler billig zu haben. Das schmucke Bauernhaus, das die deutsche Familie hinterließ, war geplündert und von den Tschechen als Pferdestall benutzt worden. Sie konnten nur abreißen und neu bauen. Jiri wurde Bergmann, verdiente gut, fuhr ein Auto. Aber die Ehe ging in die Brüche. Die Frau verließ ihn und nahm die Kinder mit nach Prag. Der Alte führt durch das leere, große Haus. Im Wohnzimmer liegen tote Fliegen an der Balkontür. Die Besucher aus Deutschland sehen in traurige Augen.

Der Tuzemák ist alle. Jiri stellt Spaten bereit. Der Boden in der Scheune ist betoniert, aber rechts hinten liegen nur lockere Brocken. Es ist die Stelle, die der Vater oft benannt hat. Sein Sohn gräbt den Boden auf, vorsichtig, tastend. Liegt dort etwas? Das Erdreich ist nicht wirklich fest. Die Freunde zwinkern sich zu, während der Erdhaufen wächst. Doch nach einer ganzen Weile wird klar: Hier ist nichts mehr.

Die Nachfrage ist Jiri sichtlich unangenehm. „Es war in den Siebzigern. Auf die Stelle fuhr ein Traktor. Der Beton brach ein. Wir sahen nach.“ Und? Der Koffer? Jiris Antworten wird fahrig. Aber die Deutschen verstehen auch so: Der Koffer ist weg, das Fotoalbum perdu.

„Wir machen trotzdem weiter. Wenn nicht jetzt, dann nie mehr!“ Entschlossen packt der Enkel den Spaten und steigt in das Loch. Längst ist die Dämmerung hereingebrochen. Der Mann hat eine Lampe gebracht. Das warme Licht erhellt die Schippe um Schippe tiefer werdende Grube. Sie wollen schon fast aufgeben. Da, ein klirrendes Geräusch! „Ich hab was!“ Zum Vorschein kommt ein zerbrochenes Einweckglas. André nimmt von nun an Fund auf Fund entgegen. Am Ende sind es drei Dutzend Einweckgläser. Die meisten sind mit Erde gefüllt, manche mit einer schwach rötlichen Flüssigkeit. Die locker sitzenden Einkochringe sind feucht und wirken wie neu. Oma Sofie hatte ganz Arbeit geleistet. Das Versteck war gut, beinahe zu gut. Jiri kommt aus dem Haus und betrachtet die Schätze. „Ježíš Maria!“ spricht er gerührt. Nachdenklich stützt er im Stehen den Kopf in die Hand. „Natürlich, ihr dürft alles mitnehmen.“