© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/16 / 02. Dezember 2016

An Wunschträumen orientiert
Leitkultur: Vortrag von Bassam Tibi über Europa und islamische Zuwanderer
Fabian Schmidt-Ahmad

Kritik an der islamischen Masseneinwanderung wird für gewöhnlich auf zwei Arten begegnet: Zum einen wird die Person des Kritikers diffamiert, seine Äußerungen als Ausdruck eines angeblich rassistischen Hasses auf das Fremde verunglimpft; zum anderen wird die Kritik als Beschreibung eines isolierten „Einzelfalls“ marginalisiert, der nichts mit jener Einwanderung, sondern mit allgemeinen gesellschaftlichen Verwerfungen zu tun habe und entsprechend vernachlässigbar sei.

Ein Ärgernis muß vor diesem Hintergrund der Politikwissenschaftler Bassam Tibi sein. So kann auch die stupendeste Propaganda dem gebürtigen Syrer und gläubigen Moslem schwerlich fremdenfeindlichen Haß unterstellen; zudem sind Äußerungen des international renommierten Sozialwissenschaftlers zur empirischen Lebenswirklichkeit des Islams, der er in der von ihm gegründeten Forschungsdisziplin der „Islamologie“ nachgeht, kaum dilettantisch zu nennen.

Was Tibi zum Islam und der islamischen Masseneinwanderung zu sagen hat, besitzt also Gewicht. Davon konnten sich die über hundert Besucher seines Vortrags „Europa ohne Identität? Europäisierung oder Islamisierung“ in der Berliner Bibliothek des Konservatismus überzeugen.

Vor achtzehn Jahren, angesichts massiver Integrationsprobleme mit Einwanderern aus dem orientalischen Raum, entwickelte der Göttinger Professor das Konzept einer deutschen „Leitkultur“. Tibi sieht diese Leitkultur als Frucht der europäischen Aufklärung. Europa sei „eine Insel der Freiheit in einem Meer der Gewaltherrschaft“, zitiert er Theodor

Adorno, der neben Max Horkheimer sein geistiger Ziehvater war. Er vergleicht dieses Konzept mit einer „Hausordnung“ als Orientierungshilfe für integrationswillige Einwanderer. Es zielt auf die Autarkie des einzelnen als Träger individueller Freiheitsrechte ab. Von dieser ausgehend lehnt Tibi die äußere, schriftgläubige Auffassung des Islams ab.

Tatsächlich stelle der Islam nach Kommunismus und Nationalsozialismus als dritte totalitäre Gesellschaftsauffassung Europa vor eine neue Herausforderung, betonte Tibi. Dieser äußeren setzt er die innere Rechtleitung eines europäisierten muslimischen Glaubens entgegen, der die Unzulänglichkeiten des schriftlich Fixierten erkennt, benennt – und ablehnt. Doch Tibi gesteht sich ein, mit dieser Sicht eines „Reform-Islams“ eine eher isolierte Position einzunehmen, die von den organisierten Islamverbänden bekämpft wird.

„Die syrische Nation gibt es nicht mehr“

Eine Position, die angesichts der islamischen Masseneinwanderung noch prekärer geworden ist, wie der Sozialwissenschaftler resümiert. Einerseits ist Tibi, der 1944 in Damaskus geboren wurde, für die Möglichkeiten „sehr dankbar“, die Deutschland eingewanderten Syrern biete. Andererseits attestierte er der Bundesregierung ein vernichtendes Zeugnis. Sie habe weit jenseits einer Verantwortungsethik im Sinne Max Webers gehandelt, sondern verfolge eine Politik, die sich an Wunschträumen orientiere.

Für das Versprechen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die Fluchtursachen rasch zu bekämpfen und damit den Zustrom syrischer Einwanderer einzudämmen, hat der Nahost-Experte nur Kopfschütteln übrig. Letztlich sei die syrische Gesellschaft an inneren Widersprüchen gescheitert. Die Unterdrückung der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit durch eine staatstragende alawitische Schicht habe sich in einem Bürgerkrieg mit unvorstellbaren Greueltaten auf beiden Seiten entladen.

Das Leben in einem gemeinsamen Staat sei nicht länger möglich. „Die syrische Nation gibt es nicht mehr“, stellte Tibi mit Blick auf seine einstige Heimat fest. Hunderte von Konfliktparteien würden hier ihre eigenen Interessen verfolgen. Der Krieg werde daher noch mindestens zehn Jahre andauern – mit entsprechenden Flüchtlingsmassen, die auf Europa zurollen werden – auf ein Europa, dessen Führungsschicht die damit verbundenen Gefahren systematisch ausblende.

Hierzulande lehnt Bassam Tibi eine staatlicherseits „verordnete Fremdenliebe“ strikt ab. Auch integrierte Einwanderer empöre die luxuriöse Versorgung der Neuankömmlinge durch den Sozialstaat, berichtete er aus Gesprächen. Er habe sich „den Titel des Bürgers hart erarbeiten“ müssen. Eben diese individuelle Bringschuld, die für eine Integration unabdingbar sei, verlange er von jedem anderen auch. Doch das werde von verschiedenen Seiten verhindert, wie beispielsweise der türkischen Religionsbehörde, die hierzulande als Ditib auftrete. 

Es sei für einen Türken hier eine Beleidigung, wenn die Regierung in Ankara ihn nicht als Individuum ernst nehme, sondern nur als Manövriermasse eigener Machtpolitik. Doch eben darum dürfte es in der Integrationsverhinderung gehen: der Zuwanderer als bloße Masse einer zu organisierenden Totalität. Angesichts dieser großen Gefahr gibt sich Tibi im Namen der auch innerlich in Europa Angekommenen kämpferisch. „Wir werden kein Ersatzproletariat für die deutsche Linke sein.“