© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/16 / 02. Dezember 2016

Die Lebenslüge fällt in sich zusammen
Volksverachtung: Gegner der herrschenden Politik werden als „Abgehängte“ und „Verlierer“ beschimpft
Thorsten Hinz

Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen, Mitleid oder Zorn empfinden soll, wenn Gegner der Willkommenspolitik, AfD-Anhänger oder Trump-Wähler von Politikern und Journalisten als Abgehängte, als Modernisierungs- und Globalisierungsverlierer, als sozial und intellektuell Zukurzgekommene abqualifiziert werden. Die Herabsetzung wird verstärkt durch die Versicherung, wenigstens ihre „Ängste“ künftig „ernst nehmen“ zu wollen. Nicht die falsche Politik ist das Problem, sondern ihre falsche Widerspiegelung im Bewußtsein  der Beschränkten, die zu ihrer Verängstigung führt. Die Politik muß demnach nur besser vermittelt und die „Verlierer“ emotional, intellektuell und sozial therapiert werden. Wo die Therapie nicht hilft, greift die Bestrafung.

Das ist zum Weinen angesichts der Arroganz der Macht. Das ist zum Lachen, weil der Hochmut, den die Protagonisten des postdemokratischen Ancien régime demonstrieren, mehr schlecht als recht ihre Angst vor dem Fall kaschiert. In einer Demokratie seine Machtposition mit der Erniedrigung breiter Wählerschichten zu rechtfertigen, ist ein verzweifelter und hochriskanter Akt, denn er stellt die Prinzipien und Mechanismen in Frage, denen man die Stellung verdankt. Er provoziert auch die Umkehrung des Verfahrens, die Frage nämlich, worauf die erhöhte Position der Platzanweiser sich, abgesehen von ihrer Repressionsmacht, überhaupt noch stützt.

Machthaber sind von Verlustängsten geplagt

Ein Handwerker, der über keinen akademischen Abschluß verfügt, aber ein Meister seines Fachs ist, der seinen Betrieb am Laufen und Angestellte in Lohn und Brot hält, verfügt über größere Welt- und Lebensklugheit, Integrität und Urteilskraft als das „Intelligenzproletariat“ (Volkmar Weiss) aus formal Hochgebildeten, tatsächlich nur Mittelmäßigen, die am Tropf staatlicher Förderprogramme hängen und sich mit sogenannten Expertenmeinungen revanchieren, die stets darauf hinauslaufen, den produktiven Sektor zu knebeln, Steuergeld abzugreifen und das öffentliche und Privatleben zu normieren.

Falls nach der Bundestagswahl 2017 die AfD in den Bundestag einzieht und die FDP ebenfalls die Fünfprozenthürde überspringt, wird das Parlament laut Berechnungen wegen der Ausgleichs- und Überhangmandate statt 598 bis zu 750 Abgeordnete umfassen. Zum Vergleich: Die viermal größeren USA begnügen sich konstant mit 435 Abgeordneten und 100 Senatoren. Trotz der offensichtlichen Absurdität gibt es im aktuellen Bundestag keine Bemühungen, die Regelung abzuändern. Zu viele Abgeordnete liefen Gefahr, ihr Mandat zu verlieren und abgehängt zu werden.

Die flüchtlings- und globalisierungsfreundlichen Printmedien stehen schon jetzt auf der Verliererseite. Beim Spiegel kommt es erstmals zu betriebsbedingten Kündigungen, und die traditionsreiche Berliner Zeitung wird gerade auseinandergenommen und mit dem Boulevardblatt Berliner Kurier fusioniert. „Da wird eine ganze Belegschaft gedemütigt“, zitierte die taz einen Verdi-Sprecher, was einen Leser, der die Mischung aus politischer Einheitsmeinung und Belehrungszwang satt hat, zum sarkastischen Kommentar veranlaßte: „Es ist natürlich sehr zu begrüßen, daß die ‘Globalisierung’ nun auch mit voller Wucht den Journalismus trifft.“

Die sich gegen Kritik zu immunisieren versuchen, indem sie höhnisch die Verlierersperspektive ihrer Kritiker hervorheben, sind selber von Verlustängsten geplagt. Die Anzeichen mehren sich, daß die „Klerikerherrschaft“ (Helmut Schelsky) der Sinnproduzenten und Sinnvermittler, der Machtpragmatiker und -exekutoren sich in der bisherigen Form nicht länger aufrechterhalten läßt. Der politisch-weltanschauliche Überbau, an dessen Firmament sie ihr Lichtlein entzünden: die Utopie einer multikulturellen und multireligiösen, geschlechtergerechten, menschenrechtlich-universalistischen, zugleich sozial- und rechtsstaatlichen Demokratie fällt in sich zusammen.

Schlüssig und wirklichkeitsnah war diese Lebenslüge der Berliner Republik nie, doch Unmengen Steuergeld und eine repressive Sprachpolitik sorgten dafür, daß die Lüge nicht öffentlich wurde. Wo angestauter Konfliktstoff dennoch explodierte – wie Anfang der 1990er Jahre bei den Anti-Asyl-Krawallen in Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen – trugen die fehlende „Offenheit“, die „Fremdenfeindlichkeit“, das „rechte Gedankengut“ derjenigen, „die schon länger hier leben“ (Angela Merkel) die Schuld daran.

Zwar hatten viele Menschen gegensätzliche Erfahrungen, doch weil Politik und Medien die öffentliche Verständigung darüber blockierten, blieb jeder für sich mit ihnen allein und konnte den belehrenden Einwand, es handele sich um eigene Ressentiments, maximal um Einzelfälle, nicht widerlegen. Um nicht ins Abseits zu geraten, schwiegen die meisten – ein Phänomen, das als „Schweigespirale“ bekannt ist.

Diese Zeit ist vorbei! Die Probleme haben seit dem Sommer 2015 ein Ausmaß erreicht, daß sie weder in herkömmlicher Weise beherrscht noch vertuscht werden können. Zweitens haben die soziale Netzwerke – ungeachtet ihrer Schwächen – sich zu einer echten Gegenmacht entwickelt und gleichen die Defizite der Altmedien immer effektiver aus. Personelle Vernetzungen sowie der Austausch und Abgleich von Information durchbrechen die Isolation und ermöglichen es, alternative Lagebilder zu erstellen. Der offizielle Sprachgebrauch wird dekonstruiert und lächerlich gemacht. Das untergräbt die Autorität der alten Medien und wirkt auf sie zurück.

Seit den Silvester-Ereignissen in Köln ist das Wort „Bereicherung“, mit dem der Zuwanderungseffekt schöngeredet wurde, aus dem Sprachgebrauch weitgehend verschwunden. Damit gilt auch die „Offenheit“ nicht mehr bedingungslos. Der Neologismus „Rapefugees“, der die englischen Worte „refugees“ (für Flüchtlinge) und „rape“ (für Vergewaltigung) kombiniert, hat die Losung „Refugees welcome“ weitgehend außer Kraft gesetzt. Zum Wortfeld gehören auch die „Fachkräfte“, die zugleich an die Behauptung aus den Medien, der Politik und Wirtschaft gemahnen, die „Flüchtlinge“ würden ein neues Wirtschaftswunder herbeizaubern. Das berührt die Kompetenz unserer „Eliten“ – ein Begriff, der längst den Beigeschmack einer „ehrenwerten Gesellschaft“ bekommen hat. Inzwischen kann Frauke Petry es sich leisten, das Donnerwort „Lügenpresse“ durch „Pinocchio-Presse“ zu ersetzen und das politische Monster auf den intellektuellen und moralischen Biedermeier seiner Exekutoren zu reduzieren.

Taktische Elastizität bei zunehmender Repression

Das alles zeigt Wirkung. Als Carolin Emcke, diesjährige Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, ihre gesinnungsethischen Platitüden ganz unreflektiert mit dem Pathos der Widerstandsheroine vortrug und den Andersdenkenden – na was schon? – „Haß“ unterstellte, machte sich Verlegenheit unter ihren Gesinnungsfreunden bemerkbar. Emcke wirkte wie ein aus der Zeit gefallener Alien und ihr Auftritt wie das peinliche Symbol eines widerlegten Milieus.

Danach sorgte der Sieg Donald Trumps für ein Erdbeben. Der künftige US-Präsident hat umstandslos alle Regeln der Politischen Korrektheit umgestoßen und seinen Gegnern den obligaten Feminismus-, Islam-, Minderheiten- oder sonstigen Bonus verweigert. Die Repression, die im politisch-korrekten Diskurs beschlossen ist, hat er außer Kraft gesetzt, indem er eine nicht minder entschlossene verbale Gegengewalt in Stellung brachte. Deutschen Politikern und Journalisten muß das wie ein Menetekel erscheinen!

Sie reagieren verunsichert und widersprüchlich. Die Kanzlerin plädiert dafür, im Internet „regulativ einzugreifen“. Hingegen erklärt Ministerin von der Leyen, man habe es mit der Politischen Korrektheit wohl übertrieben, und plötzlich hält Justizminister Heiko Maas bundesweite Referenden über die Europa- und Migrationspolitik für möglich.

Das kündigt taktische Elastizität bei gleichzeitiger Steigerung von Repression an, was ebenso elastische Reaktionen erfordert. Das Trump-Modell naßforsch auf die anders geartete Bundesrepublik zu übertragen, wäre wie ein Lauf ins offene Messer. Ein wenig Zuversicht darf man trotzdem aus ihm ziehen und bei Bedarf die Gegenfrage stellen: Wer sind hier die Abgehängten?