© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/16 / 02. Dezember 2016

„Wir würden Frau Merkel feuern“
Ist Deutschland noch bei Sinnen? Nein, meint der ehemalige BDI-Präsident und Europaabgeordnete Hans-Olaf Henkel. Gemeinsam mit seinem Kollegen Joachim Starbatty hat er ein Buch geschrieben: „Deutschland gehört auf die Couch“
Moritz Schwarz

Herr Professor Henkel, sind Sie und Professor Starbatty wirklich der Meinung, daß Deutschland „auf die Couch gehört“?

Hans-Olaf Henkel: Ja, sogar dringend.

Sie haben nicht einfach nach einem Aufmerksamkeit heischenden Titel gesucht? 

Henkel: Gar nicht. Joachim Starbatty und ich sind als Abgeordnete des Europaparlaments immer wieder von Kollegen aus anderen EU-Ländern verwundert darauf angesprochen worden, was denn bloß mit Deutschland los sei. 

Was ist mit Deutschland los?

Henkel: Die Zeit hat das einmal auf ihrem Titel treffend zusammengefaßt: „Sind die Deutschen verrückt? Oder ist es der Rest der Welt?“ Das war auf die Flüchtlingspolitik bezogen – aber es könnte ebenso für die Euro-Rettung, für Frau Merkels plötzlichen Atomausstieg oder die Klimapolitik gelten. 

Sie wollen das Klima nicht retten?

Henkel: Das ist das Stichwort: Retten! Wir Deutsche retten das Klima, die Flüchtlinge, Europa – den Euro sowieso –, die Demokratie, ja sogar die Welt (vor TTIP). Warum glaubt Deutschland, dauernd alle retten zu müssen – vor allem zu Lasten unseres eigenen Landes? Warum lassen wir Deutsche uns diese Politik gefallen? Beziehungsweise, warum retten wir mit? Es ist höchste Zeit, Deutschland einmal auf die Couch zu legen! Und das haben Starbatty und ich mit unserem Buch getan. 

Mit Verlaub, Sie beide sind Wirtschaftsexperten, keine Psychoanalytiker.

Henkel: Stimmt, allerdings habe ich von meiner Frau, die Psychologie-Professorin ist, gelernt, daß die Psychoanalyse keine Wissenschaft ist. Insofern hat Sigmund Freuds Methode, und somit auch unser Buch, keinen wissenschaftlichen Anspruch. Gleichwohl, Freud hat darauf hingewiesen, daß nicht nur einzelne, sondern auch Gesellschaften einer Triebdynamik unterliegen können.    

Das heißt konkret? 

Henkel: Deutschland leidet nach unserer Ansicht an einem Helfersyndrom. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidtbauer beschreibt das Helfersyndrom als eine Abwehr gegen die Übermacht eigener Bedürftigkeit. Ein Betroffener hat also ein geringes Selbstwertgefühl und ist daher auf seine Helferrolle fixiert. Helfen wird für ihn zur Sucht.

Sie schreiben: „Deutschland wird sich erst dann von seinem Helfersyndrom befreien können, wenn seine Elite aufhört, dem Volk immer wieder die Schuld ihrer Großeltern auf die Schultern zu laden.“

Henkel: Laut Schmidtbauer versuchen vom Helfersyndrom Betroffene ein Ideal zu verkörpern, das sie bei ihren Eltern oder allgemein in ihrer Kindheit vermißt haben. Das von den Deutschen in ihrer „Kindheit“ vermißte Ideal hat mit den furchtbaren NS-Verbrechen zu tun. 

Dann müßten wir unser Verständnis vom Umgang mit der Vergangenheit ändern. Das aber führt mit Sicherheit zu dem Vorwurf, Sie wollten „deutsche Schuld relativieren“, wenn nicht „negieren“. 

Henkel: Das ist natürlich vollkommener Unsinn. Aber Sie haben recht, mit solchen „Argumenten“ wird dann auf einen losgegangen. Dennoch, wir meinen, daß diese Analyse richtig ist. So hat Frau Merkel etwa die Aufnahme zahlloser Flüchtlinge mit Deutschlands „besonderer Verantwortung“ begründet. Selbst Helmut Kohl rechtfertigte den Euro damit, den Dritten Weltkrieg zu verhindern und wies diesbezüglich darauf hin, daß Deutschland eine besondere Verantwortung für den Frieden in Europa habe. Nach unserer Auffassung ist es jedoch grotesk, eine Politik zu betreiben, die vor allem darauf zielt, Weltmeister in Sachen Moral zu werden und Schweden als moralische Supermacht Nummer eins abzulösen. Wir werben stattdessen für echte Verantwortungspolitik – Verantwortung im eigentlichen Sinne des Wortes!

Was ist der Unterschied?

Henkel: Der vom Helfersyndrom Befallene wirkt ja tatsächlich nicht zum Wohle des Hilfsbedürftigen. Seine „Hilfe“ geht sogar rasch zu dessen Lasten. Denken Sie etwa an die vielen Flüchtlinge, die erst durch Frau Merkels Willkommenspolitik aufs tödliche Mittelmeer gelockt worden sind. Oder an deren Frauen und Kinder, die sie in den Lagern zurückgelassen haben, um sich nach Deutschland durchzuschlagen. Dabei wissen wir genau, in welche Gefahr Frauen und Kinder, die alleine sind, dort geraten können. Oder nehmen Sie die Euro-Rettungspolitik, die nicht nur wirtschaftlich und sozial verheerend für die Südeuropäer wirkt, sondern auch den europäischen Rechtsstaat ruiniert und zu einer politischen Hauruckgesellschaft hat degenerieren lassen. Und die überhaupt die EU in eine europäische Streitunion verwandelt hat.

Sie warnen allerdings auch vor dem Schaden, den der Helfende sich selbst zufügt. 

Henkel: Ich komme noch einmal auf Wolfgang Schmidtbauer zurück: Der beschreibt, wie die Hilfsbereitschaft eines Helfersyndrom-Patienten bis zur Selbstschädigung und Vernachlässigung der eigenen Familie und Partnerschaft gehen kann. Und eben das trifft auch auf unseren Patienten zu! Mit Merkels Energiewende etwa hat Deutschland sich nicht nur isoliert, sondern selbst ein Bein gestellt – wie man etwa daran sehen kann, daß unsere energieintensive Industrie kaum noch ein solches auf die Erde bekommt. Von der Flüchtlings- oder der Euro-Rettungspolitik brauche ich gar nicht erst anzufangen – jeder weiß, wie schädlich diese für uns sind. Nur eines will ich dazu noch sagen: Ich habe lange in Frankreich gewohnt, habe dort heute noch einen Zweitwohnsitz und kenne die Verhältnisse sehr gut. Ich sage Ihnen, dieses Land ist absolut reform­unwillig. Das bedeutet, daß – wenn wir den Einheits-Euro aufrechterhalten wollen – Deutschland es sein wird, das sich Frankreich anpassen muß. Weil eine gemeinsame Währung langfristig immer nur unter ähnlichen Partnern funktionieren kann. Das aber bedeutet für uns langfristig: Abstieg! Und übrigens bedeutet es auch, daß nicht erreicht werden wird, was uns immer versprochen wurde: daß aus der Eurozone eine starke Gemeinschaft wird, die sich gegen die USA und China durchsetzt. 

Warum nicht?

Henkel: Weil der „französische“ Weg – die Einführung eines Transfersystems, also einer Art Länderfinanzausgleich, statt der Ertüchtigung der schwachen Euro-Länder durch Reformen – zu einer schwachen Eurozone führt, in der Umverteilung statt Wettbewerbsfähigkeit das Leitmotiv ist. 

Aber die Eurozone wächst doch.

Henkel: Ja, das ist das, was die Zeitungen schreiben. Was sie aber nicht schreiben ist, daß sie weniger wächst als die EU. Und daß die Nicht-Euro-Länder stärker wachsen als die EU und die Eurozone. Und daß die EU seit Jahren weniger wächst als die Weltwirtschaft. Aber nun, wie auch immer, zurück zu dem für Starbatty und mich springenden Punkt: daß nämlich dieses auf den ersten Blick absurde Verhalten – Dritten zu helfen zum Schaden der eigenen Nächsten – tatsächlich vollkommen „logisch“ ist, sobald man sich klarmacht, daß es sich um ein psychologisches Phänomen handelt, wie von Schmidtbauer beschrieben, an dem Deutschland leidet. 

Deutschland oder Frau Merkel?  

Henkel: Ich möchte klar sagen, daß man uns falsch versteht, wenn man meint, wir würden die Schuld alleine Frau Merkel geben. Sie allein für das Helfersyndrom verantwortlich zu machen wäre ungerecht, denn es findet bei den Eliten und in der Bevölkerung doch weitgehend Akzeptanz. Das Helfersyndrom hat also nicht nur Deutschlands Kopf, sondern den ganzen Körper erfaßt.

Also was tun?

Henkel: Gute Frage! Deshalb beschließen wir unser Buch ja mit einem eigenen Kapitel „Die Therapie“. 

Da spielen Sie etwa durch, was wäre, wäre die CDU ein Wirtschaftsunternehmen.

Henkel: Als Aufsichtsratsmitglieder würden wir als erstes Frau Merkel feuern. Warum? Weil sie für einen massiven Verlust an Kunden und Marktanteilen verantwortlich ist. Dann würde ein Headhunter einen neuen Vorsitzenden suchen, und zwar außerhalb der Union.

Warum außerhalb?

Henkel: Weil eine Person aus dem jetzigen Führungspersonal allzu eng mit der verfehlten Politik Merkels verbunden ist. Auch Schäuble oder von der Leyen sind deshalb nicht glaubwürdig, einen Politikwechsel anzuführen. 

Sie schlagen stattdessen Friedrich Merz vor. Ist das Ihr Ernst? 

Henkel: Mit jemandem wie Merz hätte die CDU eine echte Chance für einen Neuanfang. Übrigens: Nebenprodukt wäre eine Halbierung der AfD. 

Aber Merz würde nichts an dem Problem unseres Umgangs mit der Vergangenheit ändern, was Sie vorhin selbst als Voraussetzung für eine Reform benannt haben. 

Henkel: Da wäre ich nicht sicher. Denken Sie daran, daß es Friedrich Merz war, der vor Jahren den von dem Soziologen Bassam Tibi geprägten Begriff Leitkultur in die politische Debatte eingebracht hat – und dafür schwer kritisiert wurde. 

Im Grunde empfehlen Sie allerdings die Wahl Ihrer eigenen Partei. 

Henkel: Das wäre die beste Lösung! 

Wegen eines Rechtsstreits mußte diese jüngst ihren Namen Allianz für Fortschritt und Aufbruch aufgeben. Nun heißt sie Liberal-Konservative Reformer. Kann man mit einem so abstrakten Namen Erfolg haben?

Henkel: Bei der AfD hieß es zu Beginn auch: „Alternative“ – das Fremdwort ist zu abstrakt! Nein, das Problem ist nicht der Name, sondern daß wir vom Erfolg der AfD regelrecht erstickt worden sind.

Dem Sie wie begegnen wollen? 

Henkel: Der Linksrutsch der Union  unter Frau Merkel auf der einen Seite und der Rechtsrutsch der AfD unter ihrem jetzigen, weder qualifizierten noch menschlich integeren Führungspersonal auf der anderen Seite läßt ein großes Potential für eine neue bürgerliche Partei entstehen. Das ist unsere Zielgruppe! Und wir wollen diesbezüglich bei der nächsten Landtagswahl am 26. März im Saarland ein Ausrufezeichen setzen.

Warum bitte sollte LKR an der Saar gelingen, was ALFA in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz nicht gelungen ist?

Henkel: Ich glaube, daß inzwischen mehr und mehr Bürger eine anständige Alternative zur Union und FDP suchen – eine Alternative, die nicht Herrn Putin vergöttert, den Welthandel und die Globalisierung verteufelt und Minoritäten diskriminiert. Bei der Saar-Wahl wird man die LKR erstmals wirklich wahrnehmen. Und wenn wir den Bürgern erst bekannt sind, kann uns auch der Aufbruch gelingen!  






Prof. Dr. Hans-Olaf Henkel, der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, geboren 1940 in Hamburg, ist seit 2014 Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Zunächst war er Vize-Vorsitzender der AfD, verließ diese aber 2015 und gründete gemeinsam mit Bernd Lucke und dem Wirtschaftsprofessor Joachim Starbatty die Partei „Allianz für Fortschritt und Aufbruch“, die inzwischen „Liberal-Konservative Reformer“ heißt. Lange galt der ehemalige IBM-Manager als Deutschlands prominentester Euro-Rettungskritiker, der „seinem Ruf als eisenharter Klartext-Redner alle Ehre macht“ (Tagesspiegel). Bekanntheit erlangte er als Talkshowgast, Gastautor (Welt, Focus), Kolumnist bei Bild und im Handelsblatt sowie als Buchautor. Jüngst erschienen: „Deutschland gehört auf die Couch. Wie Angela Merkel die Welt rettet und unser Land ruiniert“

 www.hansolafhenkel.de 

 www.alfa-bund.de

Foto: Demonstration für den Weltfrieden in Berlin: „Warum glaubt Deutschland stets, die Welt retten zu müssen? Vor allem zu Lasten unseres eigenen Landes? Warum machen wir das mit?“

 

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