© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Ein „Wasserpolacke“ als Tabubrecher
Zum 90. Geburtstag: Der Schriftsteller Werner Heiduczek wies 1977 in seinem Erfolgsroman „Tod am Meer“ auf sowjetische Vergewaltigungen von 1945 hin
Jörg Bernhard Bilke

Der am 24. November 1926 in Oberschlesien geborene Werner Heiduczek gehört, neben Günter de Bruyn, zu den wenigen noch lebenden DDR-Schriftstellern, die auch jenseits des Eisernen Vorhangs bekannt waren. Das liegt an der Veröffentlichung seines Romans „Tod am Meer“ (1977), dessen zweite Auflage 1978 verboten wurde, weil der Autor seinen Romanhelden Jablonski auf dem Sterbebett im bulgarischen Burgas von den Vergewaltigungen durch die Rote Armee 1945 in Oberschlesien erzählen läßt. Das wurde von einem Mitglied des SED-Politbüros, dem höchsten Machtzentrum im ummauerten Staat, dem sowjetrussischen Botschafter Pjotr Abrassimow zugetragen, der, obwohl er den Roman vermutlich niemals gelesen hatte, eine heftige Protestnote an Erich Honecker abschickte. Tendenz: Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten, obwohl hunderttausendfach an deutschen Flüchtlingsfrauen verübt, seien nie vorgekommen! 

Heiduczeks verschlüsselte Autobiographie 

In seiner Rezension der ersten Auflage schrieb der Literaturkritiker Werner Neubert am 8. Juli 1978 in der Berliner Zeitung, dem SED-Bezirksorgan: „Da werden zum Beispiel aus der opfervollen Geschichte der Rettung der Menschheit vor dem Versinken in der Barbarei durch die Rote Armee Geschichtchen ausgepreßt, die (...) eintauchen in den Morast der Verleumdungen durch unsere Gegner. (...) So bleibt der Eindruck von diesem Buch nicht zwiespältig, sondern eindeutig: negativ!“ 

Werner Heiduczek, der „Wasserpolacke“, wie er sich selbst nennt, geboren in Hindenburg, stammt, wie der kommunistische „Arbeiterdichter“ Hans Marchwitza auch, aus einer katholischen Arbeiterfamilie Oberschlesiens. Er wurde gegen Kriegsende noch als Flakhelfer eingesetzt und dann in die Wehrmacht übernommen, geriet in russische Kriegsgefangenschaft, nahm aber schon im Januar 1946 an einem Umschulungskurs für „Neulehrer“ in Herzberg an der Elster in Brandenburg teil. 

Bis 1961 war er ununterbrochen Lehrer, auch Schulinspektor und Kreisschulrat in Merseburg, und ging dann für drei Jahre als Deutschlehrer ans Goethe-Gymnasium in Burgas an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Dort konzipierte er den Roman, der seinen Namen über Nacht bekannt machen sollte. Die Lebensstationen seines Helden Jablonski entsprechen denen des Autors derart, daß man von einer verschlüsselten Autobiographie sprechen könnte. 

Jablonski hat eine Gefäßblutung erlitten und ringt im Krankenhaus mit dem Tode. In einer Art „Besessenheit nach Wahrhaftigkeit“ schreibt er einen rücksichtslosen Rechenschaftsbericht über sein Leben nieder, das bis dahin aus Irrtümern und Versäumnissen, Lügen, Schönfärberei und Anpassung bestand. Als 1983 Pjotr Abrassimow als Botschafter in Ost-Berlin abgelöst worden war, konnte der Roman unbeanstandet in der zweiten Auflage erscheinen, die inkriminierte Passage wurde nicht gestrichen: „In der Nacht darauf wurde Ellen zum zweiten Mal vergewaltigt. (...) In der Nacht holten sie Ellen heraus und noch zwei andere. (...) Mit dem, was in der Nacht und am folgenden Morgen auf diesem Bauernhof geschah, bin ich all die Jahre über nicht fertig geworden.Ellen war zwei oder drei Stunden fort. Sie kam beim frühen Licht des Tages. Ellen hatte den Gang, den Frauen nach so etwas haben: ein wenig plattfüßig, die Knie nach auswärts gebogen, den Körper aufgerichtet, ein Hohlkreuz. Sie gehen durch die Welt, die alle Farben verloren hat, eckig, wie schlecht geführte Marionetten.“