© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

„Nirgends ist der Staat glücklicher als in Utopien“
Vor 500 Jahren schuf der Humanist Thomas Morus mit der Gesellschaftserzählung „Utopia“ ein neues literarisches Genre
Marc Zoellner

Es war im Frühling des Jahres 1503, als Raphael Hythlodeus zur wohl erstaunlichsten Reise seines Lebens aufbrach. Zweimal schon hatte der portugiesische Matrose vorab seinen Seesack geschnürt, um auf große Fahrt zusammen mit Amerigo Vespucci zu gehen; jenem berühmten italienischen Entdecker, nach welchem später der Doppelkontinent Amerika benannt wurde. Von Vespuccis letzter Reise in die Neue Welt sollte Hythlodeus jedoch nicht auf direktem Wege zurückkehren. Mit 23 anderen, freiwillig ausgesetzten Kameraden errichtete er an der brasilianischen Ostküste ein Kastell, unternahm von dieser kleinen italienischen Kolonie aus Erkundungen ins unerforschte Landesinnere und weiter hinunter die Küste entlang – und erreichte schließlich, nach Jahren der Irrfahr tdurch Westindien erneut heimatliche Gefilde.

Eine Abrechnung mit den damaligen Konventionen

In Brügge, der heutigen Hauptstadt des belgischen Westflandern und bis zur Versandung des Seearmes Zwin zum Ende des 15. Jahrhunderts ein überseeischer Handelshafen von gewichtiger Bedeutung, traf Hythlodeus schließlich auf eine der einflußreichsten Persönlichkeiten seiner Zeit: den katholischen Humanisten und späteren Lordkanzler des englischen Königreichs, Thomas Morus. Jene einzigartige Gelegenheit erkennend, nutzte Morus fortab jede freie Minute seiner Zeit, um den unglaublich erscheinenden Reisebericht seiner portugiesischen Zufallsbekanntschaft, des Raphael Hythlodeus, niederzuschreiben und sich gleichfalls in die Annalen der Literaturgeschichte einzutragen. 

An der Reise des Hythlodeus selbst sollte Morus allerdings nur eine einzige, gleichwohl die faszinierendste Etappe interessieren. „Denn Scyllen und räuberische Celäonen, menschenfressende Lästrygonen und dergleichen abscheuliche Ungeheuer sind fast überall zu finden“, schreibt Morus, seine Motivation trefflich erklärend, im ersten der zwei Bücher mit dem Namen „Utopia“, „aber Bürger, die in einem vernünftig und weise geleiteten Staate leben, wohl nirgends.“ Nirgends, außer in jener von Hythlodeus bereisten Nation gleichen Namens – dem fernen Utopien; einer mondsichelförmigen Insel weit südlich jener Gefilde am Äquator, wo exotische und fremdartige Völker leben, „die den Bestien weder an Wildheit noch an Gefährlichkeit nachstehen.“

Fünf lange Jahre verbrachte Hythlodeus bei den Einwohnern Utopiens und trug nicht nur für seine Zeit erstaunliche Erkenntnisse mit nach Hause: In der Stilistik des Dialogs berichtet er Morus auf einer Parkbank nahe des Brügger Marktplatzes von einer perfekt organisierten Gesellschaft von Menschen, die weder Krieg noch Verbrechen kennen; weder Tyrannei noch Habgier; weder Privateigentum noch Mühsal und Krankheit. „Davon bin ich fest überzeugt“, weiß der Portugiese in seiner Rede zu berichten, „nirgends ist das Volk tüchtiger, und nirgends ist der Staat glücklicher als in Utopien.“

Zweifelsohne braucht nicht erwähnt zu werden, daß sowohl die Insel als auch der Seemann niemals existiert haben. Beide sind der reinen Erfindungsgabe des Thomas Morus entwachsen. Allein vom Namen her macht der Schriftsteller daraus auch keinen Hehl: „Utopia“ bedeutet übersetzt soviel wie „nirgendwo“, und „Hythlodeus“ nichts weiter als „Phantast“. Doch die Geschichte des Portugiesen stellt mehr dar als eine lediglich fiktive und von Morus ersponnene Reiseerzählung. Utopia ist die unkonventionelle Abrechnung eines großartigen Autors, geschickt an der damals herrschenden Zensur vorbeigeschleust, mit den ineffizienten feudalen Staatsapparaten des Europas der Frühen Neuzeit – und besonders mit jenem Englands. Überdies sollte das im November 1516 erstmals verlegte „Utopia“ später als Grundstein eines völlig neuen literarischen Genres gelten: des utopischen Romans, welcher als Gattung in diesem Jahr sein 500. Jubiläum feiert.

Ungebrochen wirken Einfluß und Beliebtheit des utopischen Romans sowie seines inhaltlichen Gegenteils, der vor einer tristen bis erschreckenden Zukunft mahnenden Dystopie, bis heute auf ihre Leserschaft fort: Allein Jonathan Swifts 1726 erschienene Gesellschaftssatire „Gullivers Reisen“ erfuhr im Laufe der Zeit unzählige Neuauflagen und beinahe ein Dutzend hoch budgetierter Verfilmungen. Die „Planet der Affen“-Reihe lockt seit den sechziger Jahren Millionen von Zuschauern in die Kinosäle. Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ hat als geflügeltes Wort Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch des westlichen Kulturkreises gefunden. Und aus keinem Buch wird im politischen Diskurs der Nachkriegszeit scheinbar öfter zitiert – und sei es nur vom Titel her – als aus George Orwells Generationen prägendem Roman „1984“.

Gewagte politische Visionen für das 16. Jahrhundert

Zu messen wagt sich trotz alledem keine dieser Erzählungen mit Thomas Morus’ Mutter aller Utopien. Nicht wenige utopische Romane wurden von der postmodernen Geschichte bereits ein- oder gar überholt. Andere Werke, wie H. G. Wells’ „Zeitmaschine“, werden den Status einer bloßen Fiktion niemals überwinden können. Einzig Thomas Morus’ phantastische Erzählung über die Insel der Glückseligen im Nirgendwo des Atlantiks wirkt bis heute ungebrochen fort. Nicht zuletzt auch ob der geradezu revolutionären Forderungen des Humanisten: jener nach der gesellschaftlichen Gleichstellung der Frauen, wie sie von den Utopiern vorgelebt worden war; nach der Entlastung des einfachen Volkes von Steuer und Fron; nach gerechten anstelle von drakonischen Gesetzen; nach einer Verschlankung der Staatsmaschinerie und der Entlassung unnützer Postenträger; nach der allgemeinen Teilhabe der Bürger an der politischen Willensbildung, und natürlich nach einem moralisch integeren Lebenswandel nach dem Vorbilde Christi. Letztere, von Morus zeit seines Lebens konsequent praktiziert, sollte den katholischen Märtyrer gut zwei Jahrzehnte später selbst seinen Kopf auf dem Schafott kosten.