© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Bundeswehr und Heimatschutz
Unser Land verteidigen
Michael Heinz

Kaum hatte die Bundesregierung Ende August die neue „Konzeption Zivile Verteidigung“ (KZV) vorgestellt, in der der Begriff „Wehrpflicht“ zweimal am Rande erwähnt war, warf ihr die Opposition, mit dem in diesen Fällen immer erfolgenden Pawlowschen Reflex, „Panikmache“ vor. Allerdings verebbte dieser Sturm im Wasserglas wieder sehr schnell. Aber einmal mehr fand die überfällige Diskussion über den eventuell einmal notwendig werdenden militärischen Schutz des Hoheitsgebiets der Bundesrepublik Deutschland gegen einen asymmetrisch kämpfenden Feind als Tabuthema nicht statt. Dabei weiß jeder, der sich mit dieser Materie beschäftigt, daß hierfür weder die aktuelle Gesetzeslage im Detail ausreicht, noch daß die Armee dafür ausgebildet oder ausgerüstet ist.

Unbestritten sollte sein, daß die Diskussion über die 2011 ausgesetzte allgemeine Wehrpflicht müßig ist, denn mit ihrer Wiedereinführung müßte die sich gerade in diesem Punkt einig gewesene damalige CDU/CSU/FDP-Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel zugeben, daß sie die Wehrpflicht ohne Alternative und viel zu schnell vom Tisch gefegt hat.

Vom heutigen Standpunkt muß aber auch nüchtern festgestellt werden, daß nur ein hoffnungsloser Optimist annehmen kann, daß es zur Wiederbelebung der Wehrpflicht käme oder sich die Regierung dafür entschiede, ein „soziales Jahr“ für alle im dienstfähigen Alter stehenden Jugendlichen, auch für die mit „Migrationshintergrund“, auch nur im Ansatz ins Auge zu fassen.

Die allgemeine Wehrpflicht, die es in den vergangenen Jahrzehnten vor der Aussetzung de facto sowieso nur noch auf dem Papier gab, ist vom Tisch, ob es gefällt oder nicht. Eine Rücknahme der Aussetzung ist nur dann zu erwarten, wenn die Mehrheit der Wähler sie aus Angst einfordert, was jedoch in unserem deutschen Hort des Friedens einstweilen wohl nicht zu erwarten ist.

Allerdings macht es die Armee per se ihren Kritikern auch leicht, denn es sind ja nicht nur die „nicht geradeaus schießenden Gewehre oder die nicht flugfähigen Flugzeuge“, sondern nicht selten auch das äußere Auftreten des Soldaten. Jedermann kann feststellen, daß die jahrzehntelang gepriesenen Devisen „Soldat ist ein Beruf wie jeder andere“ und „Die Uniform ist Arbeitskleidung wie die Zimmermannsjacke oder die Metzgerschürze“ falsch waren.

Zunächst sollte daher die Armee alles daransetzen, ihre in den Jahren verlorengegangene Seele wiederzufinden. Aber auch die deutsche Bevölkerung muß endlich erkennen, daß eine erfolgreiche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik nur dann gelingen kann, wenn auch die Mehrzahl des Volkes von einem breiten Verteidigungswillen überzeugt ist und hinter ihren Streitkräften steht.

Existenz und mögliche Einsatzszenarien der Streitkräfte regeln die Grundgesetz-Artikel 87a und 91. Zwar haben zahlreiche Einsätze der Bundeswehr im Inneren bereits stattgefunden, allerdings nicht zur Gefahrenabwehr bei inneren Unruhen, sondern lediglich bei Naturkatastrophen.

Was den Einsatz zur Abwehr innerer Unruhen betrifft, ist dies in den Artikeln 87a Absatz 4 und 91 Absatz 2 formuliert. Um allerdings die Frage beantworten zu können, ob die Bundeswehr im Falle innerer Unruhen überhaupt in der Lage wäre, ihre zulässigen Einsätze erfolgreich bestehen zu können, ist ein Blick zurück notwendig.

Um kurzfristig Kräfte für den Heimatschutz bereitzustellen, könnte ganz ohne neue Gesetze interessierten jungen Leuten die Möglichkeit geboten werden, im Rahmen einer „zeitfreiwilligen Dienstzeit“ in heimatnahen Standorten eingesetzt zu werden.

1985 umfaßte die Bundeswehr 495.000 Soldaten, darunter 220.000 Wehrpflichtige, die im vierteljährlichen Turnus einberufen wurden. Seit den neunziger Jahren allerdings änderte sich die Stärke unserer Streitkräfte dramatisch. Division nach Division wurde außer Dienst gestellt, aufgelöst wurde die unter nationalem Befehl stehende Territoriale Verteidigung, bestehend aus den national geführten drei Territorialkommandos mit einer großen Anzahl Heimatschutzverbänden sowie fast die gesamte Wehrersatzbehörde.

Übriggeblieben ist eine Präsenzarmee von 176.162 Soldaten (Stand 30. September 2016) plus ziviler Verwaltung,  sowie eine „Reservearmee“, bestehend aus 30 ausschließlich aus Reservisten zusammengesetzten Heimatschutzkompanien, die von den 16 gekaderten Landeskommandos geführt werden.

Die für den Heimatschutz am ehesten einzusetzenden Verbände stellen das Heer (60.083 Soldaten) sowie geringe Teile der insgesamt 40.826 Soldaten zählenden Streitkräftebasis. Es ist nachvollziehbar, daß diese Kräfte im Falle eines durch innere Unruhen herbeigeführten Notstandes in keiner Weise auch nur annähernd für den Bevölkerungs-, Objekt- oder Raumschutz ausreichen. Auf 466 Bewohner Deutschlands kommt statistisch ein Soldat, mitgezählt sind Feldköche wie Generale. Dafür gab es 2012 in Deutschland 310.970 Polizeibedienstete (Stand 2015), also 134.808 mehr, als die Bundeswehr Soldaten hat. Und sieht man auf die Zahl von rund 1,38 Millionen freiwilligen Feuerwehrleuten, fällt das Mißverhältnis noch deutlicher aus.

Wie bereits erwähnt, ist nicht davon auszugehen, daß die Wehrpflicht kurzfristig wieder aktiviert wird, denn die Politik ist mitnichten bereit, ein solches verteidigungspolitisches Zeichen zu setzen. Dazu kommt, daß die gesamte Wehrersatz-Organisation mehr oder weniger zerschlagen wurde. Auch ist es unbestritten, daß, selbst wenn die Wehrpflicht reaktiviert werden sollte, man diese Bataillone kaum in Kampfeinsätzen, wie sie seit Jahren bei der Bundeswehr vorkommen, einsetzen könnte. Denn um einen siegeswilligen, eventuell ideologisch beeinflußten Feind mit all seinen Möglichkeiten (asymmetrischer Krieg) erfolgreich bekämpfen zu können, erfordert es motivierte, kriegsnah ausgebildete und bestens ausgerüstete Spezialverbände.

Will man allerdings kurzfristig Kräfte für den Heimatschutz bereitstellen, dann könnte, ohne neue Gesetze, interessierten jungen Männern und Frauen die Möglichkeit geboten werden, im Rahmen einer „zeitfreiwilligen Dienstzeit“ in heimatnahen Standorten eingesetzt zu werden. Dazu die Garantie, nicht in Auslandseinsätze gehen zu müssen, sondern im Frieden und im Verteidigungsfall lediglich beim regionalen Heimatschutz mit all seinen Facetten verwendet zu werden.

Diese Heimatschutzverbände wären ausschließlich nationale Heerestruppen. Aufzustellen wären, angehängt an die 16 Landeskommandos, zwölf Verbände mit Regimentscharakter zu je drei Bataillonen mit je vier Kompanien „leichte Infanterie“. Dazu wird Deutschland viergeteilt in die Territorialwehrbezirke Nord mit zwei Regimentern für Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen, West mit zwei Regimentern für Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Süd mit drei Regimentern für Bayern, Sachsen, Thüringen und Ost mit zwei Regimentern für Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Dazu kommen, aus nachvollziehbaren Gründen, je ein weiteres verstärktes Regiment für Berlin, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Das gibt insgesamt 36 leichte Heimatschutzbataillone mit 144 Kompanien, Gesamtstärke zwischen 18.000 und 20.000 Soldaten und Soldatinnen.

Auch dieses Heimatschutzsystem ist einstweilen wohl mehr Wunschdenken als Realität. Es wäre aber eine Möglichkeit, eine Heimatschutzarmee aufzubauen, ohne die umstrittene und unpopuläre allgemeine Wehrpflicht wieder

 zu aktivieren.

Diese Regimenter verfügen über einen Ausbildungskader Berufs- und Zeitsoldaten und werden organisatorisch so aufgefüllt, daß immer vier Verbände voll einsatzfähig sind. Sie sind infanteriestark (ohne schwere Waffen wie zum Beispiel Mörser) und vollmotorisiert. Sie würden geschlossen stationiert werden. Die Mannschaften rekrutieren sich aus zeitfreiwilligen Männern und Frauen der Region, die vier bis sechs Monate eine militärische Grund- und Spezialgrundausbildung durchlaufen, mit Schwerpunkt in der Gefechtsausbildung bis zum Kompanierahmen. Nach dieser Ausbildung erhalten die Soldaten die Ausbildungs- und Tätigkeitsnummer (ATN) „Sicherungssoldat“ und werden in die Personalreserve entlassen – beziehungsweise erhielten sie die Möglichkeit, als Zeit-/Berufssoldaten für alle Laufbahnen im Verband zu bleiben oder in die Präsenzarmee übernommen zu werden.

Aufträge dieser Heimatschutzverbände wären unter anderem: Ausbildung von Soldaten und Soldatinnen zum feldverwendungsfähigen Soldaten, Bildung der Personalreserve (Feldersatz), Ansprechpartner für Reserveübungen, Hilfeleistung bei Naturkatastrophen, Raum- und Objektschutz während Spannung, Krise und Aufmarsch, im Verteidigungsfall Bevölkerungs-, Raum- und Objektschutz in der „rückwärtigen Kampfzone“ (RCZ).

Zugegeben, auch dieses Heimatschutzsystem ist einstweilen wohl mehr Wunschdenken als Realität. Es wäre aber eine Möglichkeit, eine Heimatschutzarmee aufzubauen, ohne die umstrittene und unpopuläre allgemeine Wehrpflicht wieder zu aktivieren, was darüber hinaus durchaus auch zu innenpolitischen Verwerfungen führen könnte.

Unbeschadet dieser Einschätzung gibt es bei den möglichen Bedrohungsszenarien unserer Zeit aber nur eine Antwort auf alle relevanten sicherheitspolitischen Fragen: Die Bundeswehr muß wieder auf einen personellen Stand gebracht werden, der es ihr erlaubt, allen Gefährdungspotentialen zu begegnen. Beim Heer ist das eine Zahl zwischen 250.000 und 275.000 Zeit- oder Berufssoldaten.

Wichtig ist dabei die Aufstellung von Spezialverbänden (Fallschirmjäger, Gebirgsjäger, Panzergrenadiere, Pioniere, ABC-Abwehr, Flugabwehr), die im Zuge der drastischen Verkleinerung der Bundeswehr in unverantwortlicher Weise reduziert wurden.

Die Marine- und Luftwaffen-Lobby in Bundestag, Ministerium und Führungsstab Streitkräfte (FüS) haben es dabei bewußt in Kauf genommen, daß wichtige, in Jahrzehnten erarbeitete Fähigkeiten im Heer verlorengingen, damit ein paar inzwischen flügellahme Flugzeuge oder „Dickschiffe“ mehr bestellt werden konnten, während den Heeresgeneralen die klaglose Zustimmung zur Auflösung von Division nach Division mit weiteren goldenen Sternen auf den Schulterklappen versüßt wurde.

Schließlich sollte die Ende der sechziger Jahre begonnene Parteipolitisierung der Armeespitze beendet werden, denn eine militärische Führung, die jede politisch motivierte Grille widerspruchslos ausführt, kostet im Ernstfall das Blut der Soldaten. Die für alle Beteiligten so wichtige Diskussion über die zukünftige Rolle der Bundeswehr ist also mehr als überfällig.







Michael Heinz, Jahrgang 1948, Oberst d. R. a. D., ist Historiker und Publizist. Er war von 1967 bis 1971 Soldat in der Infanterie der Bundeswehr und diente dann bis zu seiner Entlassung aus der Beorderung 37 Jahre als Reserveoffizier in verschiedenen Funktionen, zuletzt im WBK VII/13. PzGrenDiv. als G3 und Verbindungsstabsoffizier Generalstabsdienst zum IV. Korps. Zwischen 1983 und 1989 war Heinz Redakteur der FAZ.

Foto: Rekruten bei gemeinsamen Übungen auf der Hindernisbahn eines Truppenübungsplatzes: Für die so notwendige Diskussion darum, wie sich die Bundeswehr gegen Bedrohungen der Gegenwart und Zukunft bestmöglich wappnen kann, sind vor allem überkommene Gewohnheiten und gedankliche Hürden zu überwinden.