© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Dorn im Auge
Christian Dorn

Totensonntag – im Café lese ich in der Zeitung, die Demokraten Amerikas hätten nicht genug Menschen „zur Urne gebracht“. Jetzt weiß ich, warum mich das Wahlgeschehen in der Demokratie kalt läßt, da die Regierung Merkel eine Art Friedhofsruhe verordnet. Da kommt ein weiterer Gast und berichtet kopfschüttelnd von den „Breaking News“ am Nachmittag; er hätte schon geglaubt, Merkel sei erschossen worden. Unpassend, aber unwillkürlich – schuld ist wohl der fabelhafte Riesling – fallen alle in ein irrwitziges Gelächter, das nicht mehr aufhören will.


Auch der, trotz achtzig Jahren, geradezu jugendlich auf die Bühne springende Wolf Biermann, der zwei Abende zuvor im Berliner Ensemble sein Geburtstagskonzert gibt, kann nicht von der Bühne gehen. Er muß eine um die andere Zugabe geben, vor allem wegen des ihn begleitenden Zentralquartetts, dem legendären Jazz-Ensemble, das unnachahmlich versteht, die Melodien in einer phantastisch paraphrasierenden Weise zu veredeln, als emaniere hier ein akustisches Paradies – nachzuhören auf der eben erschienenen CD „... paar eckige Runden drehn!“ Darauf auch das Lied „Als wir ans Ufer kamen“, wo es am Ende heißt: „Ich möche am liebsten weg sein / und bleibe am liebsten hier“ – was hier, durch die erzwungenen Zugaben, plötzliche Heiterkeit auslöst.


Zuvor hatte Biermann sein wohl einflußreichstes Lied „Ermutigung“ vorgetragen und – so mein Gedanke – damit zugleich der Bundeskanzlerin Mut gemacht, sich erneut zur Wahl zu stellen. Zumindest liegt dies nahe, ist doch neben Merkel auch deren Ehemann, der Chemiker Joachim Sauer zugegen, der einen klugen Festvortrag auf den Jubilar hält und rückblickend auf das Kölner Konzert 1976 bekennt, „was für ein schrecklicher Kommunist“ Biermann doch gewesen sei. Und erklärt: „Für mein Erschrecken über seinen Kommunismus gibt es nur eine Erklärung: Daß seine Lieder klüger waren als er selbst“, um sodann Biermanns Einsatz für die Opfer des SED-Regimes exemplarisch am Schicksal Siegmar Fausts hervorzuheben (JF 46/16).


Biermann selbst erzählt, er habe es einst nur ausgehalten, weil er sich für den wahren Kommunisten hielt, im Kampf gegen die falschen. Abermals zeigt er sich als ein Meister der Dichtung und der Dialektik, beispielhaft in der „Populär-Ballade“. Und erinnert an Hegel: „Man erkennt nur das, was man kennt“ – so hatte das MfS bei der Transkription der abgehörten „Stasiballade“ aus „die Stasi ist mein Eckermann“ die Zeile „die Stasi ist mein Henkersmann“ gemacht.