© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

Stände, Landsknechte und der Buchdruck
Der Schriftsteller Bruno Preisendörfer entführt den Leser in die Zeit der Reformation Martin Luthers
Karlheinz Weißmann

Zu den merkwürdigen Begleiterscheinungen des Geschichtsverlusts gehört das massenhafte Interesse an Geschichte. Große Ausstellungen zu historischen Themen sind regelmäßig überlaufen, der Besucherstrom in Museen reißt nicht ab, Filme und Serien, die sich mit den Großen und Kleinen der Vergangenheit befassen, ziehen ein breites Publikum an, dasselbe gilt von Spezialzeitschriften und selbst von Büchern, die – richtig plaziert – eine Menge Leser finden. Voraussetzung ist natürlich ein populärer Ton. 

Den trifft Bruno Preisendörfer, der im letzten Jahr mit Erfolg den Band „Als Deutschland noch nicht Deutschland war“ veröffentlichte, in dem es um eine „Reise in die Goethezeit“ ging. Was da geboten wurde, war nicht nur flott geschrieben, sondern auch eine interessante Mischung aus Informationen über die Persönlichkeiten der Zeit wie die Nebenfiguren, über die Haupt- und Staatsaktionen wie die geistige Entwicklung zwischen Aufklärung, Sturm und Drang und Romantik. Von der Resonanz beeindruckt, bringt Preisendörfer jetzt einen weiteren Band, der sich nach dem Muster des Vorgängers mit der Ära der Reformation beschäftigt.

Interessierte Laien, nicht die Ahnungslosen, nicht die Spezialisten, sind die Zielgruppe von „Als unser Deutsch erfunden wurde“. Es geht um die, die sich gern als „Zeitreisende“ in einer ganz fremd gewordenen Epoche umschauen, hier eine elende Kate der leibeigenen Bauern besichtigen und da in die Spinnstube sehen und hören, was die Mädchen reden und die dem „hellen Haufen“ der Landsknechte folgen. Aber auch diejenigen, die sich abwenden, wenn die Rebellen mit dem Rad hingerichtet werden, die die Mühe der Schulkinder beim neuen Rechnen nach Adam Ries genauso zur Kenntnis nehmen wie die Debatten der Gelehrten und ihre Begeisterung für die neuen Möglichkeiten des Buchdrucks oder einen Blick hinter die Kulissen der fürstlichen und päpstlichen Intrigen riskieren. 

Bei Preisendörfer wird so ein großer Bogen gespannt. In erzählendem, manchmal auch in plauderndem Ton wird wenig Bekanntes geschildert oder eine abgelegene Quelle zitiert oder ein gewöhnlich unbeachtetes Detail zum Sprechen gebracht. Da geht es um die Stabilität wie die Schlupflöcher der Ständeordnung, um die Macht des Mittelalterlich-Beharrenden wie des Dynamisch-Modernen, um die Bedeutung der großen Entdeckungen für die Verschiebung der wirtschaftlichen Schwerpunkte in Europa. Aber auch die Folgen der Doppelten Buchführung, die Mühen, mit denen die Renaissance nördlich der Alpen zu kämpfen hatte und die Unmöglichkeit, kaiserliche Macht gegen die Fürsten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation durchzusetzen, kommen zur Sprache. 

Der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem Alltagsleben, auf den Gegebenheiten, unter denen die vielen existierten, die Vorfahren der meisten von uns waren, um die Sitten, Kleidung und die Ernährung und die Art der Unterhaltung, um Geburt, Leben, Tod, um das Wissen, das jedermann und das Wissen, das nur wenige besaßen und um den Unterschied zwischen der Kultur der Eliten und der Kultur des Volkes.

Kaum jemand wird den Band von Preisendörfer aus der Hand legen, ohne etwas gelernt zu haben. Kaum jemand wird die Lektüre beenden, ohne sich unterhalten gefühlt zu haben. Das ist mehr, als man über die meisten Bücher dieser Art sagen kann. Allerdings bleibt doch ein gewisses Unbehagen, und das betrifft keinen Neben-, sondern einen Hauptaspekt. 

Wenn Preisendörfer im Vorfeld des großen Reformationsjubiläums, das uns im kommenden Jahr bevorsteht, einen Band liefert, der ausdrücklich die „Lutherzeit“ behandelt, würde man eine angemessenere Art der Beschäftigung mit der zentralen Figur – Martin Luther – und seinem zentralen, nämlich religiösen Anliegen erwarten. An dieser Stelle wird der Leser aber enttäuscht zurückbleiben. Denn abgesehen von gewissen methodischen Seltsamkeiten, vor allem der Gewohnheit, die Quellen teilweise im Original und teilweise in heutigem Deutsch zu präsentieren, merkt man dem Autor seine Fremdheit gegenüber dem an, was diese Zeit im Innersten bewegte. 

Die Ausführungen zur Theologie und zu deren Denkvoraussetzungen wirken blaß. Die überragende Persönlichkeit Luthers erscheint mehr oder weniger eingeebnet, das, was das „Turmerlebnis“ bedeutete, was ihn zum Thesenanschlag und zum „Hier stehe ich, Gott helfe mir!“ trieb, und das heißt dazu, sein Leben zu riskieren, wirkt fast wie eine Skurrilität, jedenfalls ganz und gar nicht nachvollziehbar. Aber vielleicht, auch das muß man für möglich halten, steckt dahinter weder Unwille noch Unvermögen, sondern gerade Kalkül des Verfassers, des Verlags, des Marketings. Wir wollen es nicht hoffen.

Bruno Preisendörfer: Als unser Deutsch erfunden wurde. Reise in die Lutherzeit. Galiani Verlag, Berlin 2016, gebunden, 476 Seiten, Abbildungen, 24,99 Euro