© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

Zorn an der sonnigen Westküste
Nach der Wahl von Trump: Das liberale Kalifornien liebäugelt mit einer Unabhängigkeit von Washington
Elliot Neaman

Wenn Trump gewinnt, kündige ich eine gesetzliche Kampagne für Kalifornien an – die ich auch finanziell unterstützen werde –, eine eigene Nation zu werden“, twitterte ein Geschäftsmann aus Silicon Valley am Tag der US-Präsidentschaftswahl und gab damit den Ton vor, mit dem das zutiefst liberale Kalifornien auf den Sieg von Donald Trump reagieren sollte. In Oakland, Berkeley, San José und anderen Städten rund um die Bucht von San Francisco brachen Proteste aus und verbreiteten sich an der Westküste bis nach Portland und Seattle sowie die Küste hinunter bis nach Los Angeles. Zwischenzeitlich brach sogar die Netzseite der kanadischen Einwanderungsbehörde zusammen.

Alle diese Reaktionen spiegeln einen Schrei der Verzweiflung über die Wahl eines Mannes wider, der in Kalifornien von einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt wurde. Die negativen Emotionen wie diese Proteste sind für das übrige Land nichts anderes als ein Anzeichen dafür, wie tief die Kluft zwischen dem nach innen gerichteten „Fly over America“ und den beiden weltoffenen Küsten geworden ist. Dennoch ist unbestreitbar, daß der Widerstand der Westküste gegenüber Trump langfristige Auswirkungen sowohl auf Kalifornien als auch auf die ganze Nation haben wird.

In den Stunden der Wahl war die Twitter-Welt mit einem neuen Ausdruck – Calexit – erhellt, in dem sich auf perverse Art und Weise die Abstimmung über den Brexit vom letzten Frühjahr wiederfand. Seit 2014 ist eine „Ja zu Kalifornien“-Unabhängigkeitskampagne als eine Bewegung am Rand des politischen Spektrums im Gang. Mit der Wahl von Donald Trump haben die Sponsoren dieser Initiative plötzlich Aufwind bekommen. Sie streben jetzt ein Volksbegehren für 2018 an, das Kalifornien zu einem unabhängigen Staat verwandeln würde. Es gibt zahlreiche verfassungsrechtliche und weitere juristische Hindernisse, die eine derartige Abspaltung unwahrscheinlich machten. So kennt die Verfassung der USA zwar keine Verfahren für den Austritt aus der Union, doch ist es nicht völlig undenkbar, daß ein künftiges Kalifornien irgendeine Form einer Teilautonomie erlangen könnte, analog etwa der Beziehung Schottlands zu Großbritannien.

Viele Kalifornier befürchten, daß die künftige Trump-Administration die progressiven Gesetze Kaliforniens untergraben werde. Die Kalifornier fahren andere Autotypen als die übrige Nation (Fahrzeuge mit Elektro-, Hybrid- und Wasserstoffantrieb), haben strenge Umweltbestimmungen erlassen, und sie dulden illegale Einwanderer, die Führerscheine erhalten, zur Schule, aufs College und in öffentliche Krankenhäuser gehen können. Die US-Regierung hat die Möglichkeit, in all diesen Bereichen Veränderungen zu erzwingen – durch Durchführungsverordnungen oder indem sie Fördermittel verweigert.

Das Ergebnis dieser Kollision wird auf einen risikoreichen Kampf zwischen den kalifornischen Demokraten und der republikanischen Administration in Washington hinauslaufen. Der Stratege der Demokraten, Steve Mavigilio, stellte fest: „Dies ist ein herber Rückschlag für den Fortschritt, den wir gemacht haben – sei es auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge oder der Einwanderung oder der Umwelt. Wir werden wohl sehr mit dem uneins sein, was eine Trump-Administration, ein republikanischer Kongreß und ein republikanischer Oberster Gerichtshof in den kommenden vier Jahren vorlegen werden.“

Die Zukunftsängste sitzen tief, besonders in San Francisco und in der abgeschotteten High-Tech-Welt von Silicon Valley. „Wenn die Wähler in Kalifornien gewußt hätten, was sich auf der nationalen Bühne abspielen würde, hätten sie Heroin legalisiert“, twitterte der Meinungsforscher Paul Mitchell unter Bezugnahme auf einen Antrag, durch den am 8. November in Kalifornien der Konsum von Marihuana legalisiert wurde.

Andere Bürger sind eher aufsässig als verzagt. Ein junger Mann schrieb einen Brief an die Lokalzeitung San Francisco Chronicle: „Was kann man tun? Ich möchte weglaufen und mich verstecken, meine Identität als Staatsangehöriger aufgeben. Doch das kann und will ich nicht. Ich werde das tun, was mir meine Eltern beigebracht haben. Ich werde mich erheben. Ich werde meinen Mut zusammennehmen. Ich werde es trotz des Hasses und der Ausgrenzung aushalten. Und ich werde meine Stimme abgeben. Bei jeder Gelegenheit. Man wird mich nicht zum Schweigen bringen.“

Die Unternehmer im Silicon Valley interpretieren den Schock des Trump-Sieges als eine Mahnung im Hinblick darauf, daß sie den Lebensstil und die Verbraucherentscheidungen vieler Amerikaner mißverstanden haben, aber auch als eine Gelegenheit, ihre Botschaft und ihre Produkte umzurüsten. Eine High-Tech-Unternehmerin vermerkte in ihrem Blog: „In der Technik brauchen wir einen Maßstab, daher blicken wir auf die Welt durch die Linse der aggregierten Metrik, der Kombination von Meßwerten also, wie Webseitenaufrufe, aktive Nutzer und sogar Einkommen. Doch das heißt nicht, daß wir die Menschen auf der anderen Seite des Bildschirms als Individuen verstehen. Das ist die Gefahr, aber auch die Chance.“ Ihre Firma Mattermark hat eine Plattform erstellt, die Daten über Startups „aggregiert“, also gewissermaßen zusammenfaßt, um Geschäftsabschlüsse zu beschleunigen – Donald Trumps angebliche Stärke. Doch der endlose Optimismus, der die High-Tech-Industrie befeuerte, Obama, den Freihandel und offene Grenzen unterstützte, ist nun mit einem gewählten Präsidenten konfrontiert, der ihre Überzeugungen nicht teilt und ganz anderes im Sinn hat.

Inzwischen beginnt sich nun die Fassungslosigkeit, die der Wahl folgte, in eine kühle und mühsame Anerkennung der Realität zu wandeln. Viele Kalifornier beginnen jetzt die Haltung einzunehmen: Wenn das Volk Trump wollte, einen ungehobelten Magnaten aus Manhattan ohne politische Erfahrungen, dann soll es die Folgen seiner Politik eben auch zu spüren bekommen. Vielleicht wird er sich zumindest durch den Verkehrskollaps durchboxen, der Washington in den letzten acht Jahren lahmgelegt hat. Obama wurde von aufsässigen Republikanern bei nahezu allem blockiert, was er in Angriff nahm. Wir haben es vernünftig versucht, so denkt man, und es hat nicht funktioniert – probieren wir’s also mal verrückt. In diesem Sinne sinnierte Jackie Speier, eine Kongreßabgeordnete, die den Verwaltungsbezirk zwischen Süd-San Francisco und Silicon Valley vertritt: „Das amerikanische Volk hat wirklich genug von dem Nichtstuer-Kongreß. Nun werden sie einen Kongreß haben, der tatsächlich etwas tut, und wir werden sehen, ob sie das gut finden.“






Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt europäische Geschichte an der University of San Francisco.