© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Ein letztes Gespräch
Literatur: Hans-Ulrich Treichels Erzählung „Tagesanbruch“ handelt von einer traumatischen Gewalterfahrung, Entfremdung und Verlust
Thorsten Hinz

Der Titel „Tagesanbruch“ des Romans von Hans-Ulrich Treichel ruft Bilder vom Erwachen, von frischen Kräften und Neubeginn herauf, doch bereits der Schutzumschlag mit seinen changierenden Grautönen dementiert die spontane Erwartung und läßt seine doppelbödige und düstere Bedeutung erahnen. Ein Rabe – der Vogel, der als Todesbote gilt – breitet seine Schwingen aus. Tatsächlich bedeutet der Tagesanbruch hier ein Ende und keinen Anfang. Einer Witwe, einer Greisin, ist das Schlimmste widerfahren, was ihr überhaupt passieren konnte. Ihr Sohn, den sie bis zuletzt im Gästezimmer ihrer Alterswohnung gepflegt hat, ist eben gestorben. Er war ihr einziges Kind. Er war unverheiratet geblieben und hat ihr keine Enkel hinterlassen. Am Rand des Grabes stehend, weiß die alte Frau unwiderruflich, daß ihr Tod das Ende einer generativen Linie markiert.

Sie hält Nachtwache und Zwiesprache mit dem toten Sohn, die sie in ein Heft notiert. Sie spricht aus, was jahrzehntelang, seit 1945, in ihr und ihrem längst verstorbenen Mann verschlossen geblieben war.

Sie ist eine einfache Frau, ohne höhere Bildung und sprachliche Raffinesse, doch ausgestattet mit einem gesunden Verstand und klarer Urteilskraft. Ihre Geschichte ist geprägt von Krieg, Vertreibung, Gewalt und Arbeit. Sie stammt aus Wolhynien in der Ukraine, die Familie wurde später auf einem Bauernhof im okkupierten Polen angesiedelt. 1945 wurde ihr Treck von den Russen überrollt, die sie und ihren Mann herausholten, vermutlich, weil er ihnen wegen seiner Armprothese als ehemaliger Wehrmachtssoldat verdächtig erschien. Die Frau wurde mehrfach vor den Augen des Mannes vergewaltigt. Beide sollten erschossen werden, doch der Rotarmist, der damit beauftragt war, begnügte sich damit, in die Luft zu schießen und ließ sie laufen. Sie strandeten in Ostwestfalen, wo sie ein Geschäft für Arbeitsbekleidung eröffneten und zu bescheidenem Wohlstand gelangten. Das Leben war ausgefüllt mit Arbeit, Entsagung, sparsamen Freuden und Schweigen.

Den Eltern bleibt nur die Verdrängung

Die Konstellation und Atmosphäre erinnern an den Roman „Der Verlorene“, mit dem Treichel 1998 in die erste Reihe der deutschen Autoren rückte. Dort kreisten die Kindheit und Jugend des Ich-Erzählers und das Leben der Eltern um eine große Leere, um den älteren Bruder, der auf der Flucht aus Ostpreußen verlorengegangen war. Nur ist „Tagesansbruch“ viel strenger komponiert, die Stimmung um vieles düsterer, weil die Passagen entfallen, in denen Treichel den Umschlag der elterlichen Verkrampfung in unfreiwillige Komik geschildert hatte. 

In „Tagesanbruch“ gibt es nur einen Sohn und ist die Vakanz noch schmerzhafter. Denn die Eltern wissen nicht, ob ihr 1945 geborener Sohn vom Ehemann oder von einem der Vergewaltiger gezeugt wurde. Sie waren „(z)wei Beschämte, die nicht mehr zueinanderfanden und auch durch das gemeinsame Kind nicht erlöst werden sollten, weil es vielleicht gar kein gemeinsames war“.

Die Gewalterfahrung, die ihr Leben bestimmt, läßt sich in keine Lebensnormalität integrieren. Es bleibt ihnen nur die Verdrängung. „Als wären wir nicht dabeigewesen, bei unserem eigenen Unglück.“ Die Entfremdung ist total und irreparabel. Krieg, Flucht und Vertreibung, die sie erlebt haben, sind nicht nur geographisch, sondern existenziell zu verstehen. Die nachträglich gesammelten Papiere und Erinnerungsstücke aus dem Osten füllen zwar die Schubladen, aber sie bleiben tote, zusammenhanglose Materie.

Treichel hat seinen Text eine Erzählung genannt, doch eigentlich handelt es sich um eine Novelle mit einer strengen, durchgängigen Fabel. Die Dramatik des Konflikts liegt in seiner Nichtaustragung. Die Informationen über den Sohn sind spärlich, aber hinreichend, um seine innere und äußere Biographie zu rekonstruieren. Er war unauffällig und angepaßt, verehrte die üblichen Pop-Ikonen, litt allerdings unter der Freudlosigkeit der Eltern und zog sich früh in sich selbst zurück. Der Verzicht auf die Ehe und die generative Verweigerung erscheint als die Folge von Energiemangel und fehlendem Lebensmut, denn in seiner mittelmäßigen akademischen Karriere findet sie keine Rechtfertigung oder Erklärung. Man kennt diesen Typus aus früheren Büchern von Treichel, so aus dem „Tristanakkord“ und dem „Irdischen Amor“.

Vor fast genau vierzig Jahren veröffentlichte Thomas Brasch (1945–2001) den Erzählungsband „Vor den Vätern sterben die Söhne“, in dem er schildert, wie eine junge Generation in der DDR unter den überspannten, politisch-ideologisch aufgeladenen Erwartungen der Elterngeneration, die von geschichtlichen Traumata gezeichnet ist, zerbricht. Thematisch bildet Treichels Buch das apolitische bundesdeutsche Pendant.

Die Frau hat in der Tochter ihrer tunesischen Nachbarn einen Enkel-Ersatz gefunden. Die Eltern sind hilfsbereite, tüchtige Leute und im Lebensmittelhandel tätig. Ihre Einkäufe erledigt die Greisin in einem Geschäft, das „von Asiaten übernommen wurde, nachdem die deutschen Besitzer sich zur Ruhe gesetzt hatten“. Auch sie sind unglaublich höflich und bestehen darauf, ihr die Tasche nach Hause zu tragen.

Manche Rezensenten wollten im nächtlichen Monolog der Greisin einen Akt der Selbstbefreiung erkennen. Doch weder ist die Beichte vollständig – denn „es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten“ –, noch eröffnet sie einen Weg oder einen Blick in die Zukunft. Was einzig bleibt, ist der Blick ins Grab. Der Tag, der jetzt anbricht, gehört den anderen.

Dieser beklemmende, dichte Text ist das Konzentrat aus Treichels Gesamtwerk. Es ist ein meisterliches Werk über unsere Vergangenheit, Gegenwart und schwindende Zukunft.

Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, gebunden, 86 Seiten, 17,95 Euro