© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

„Er saß stundenlang an meinem Bett“
Wolf Biermann zum Achtzigsten: Ein ehemaliger Stasi-Häftling erinnert sich an die Hilfe des Liedermachers
Siegmar Faust

Auf den Liedermacher Wolf Biermann stieß ich, als ich 1965 noch ein braver Student war und mich als Jungmarxist verstand. Es kursierte eine Musikkassette mit seinem pazifistischen Lied „Soldat, Soldat …“ Es war kein Genuß. Die Kassette war so oft überspielt worden, daß die Geräusche fast den Text verschluckten.

Dann erfuhr ich einiges über ihn von dem dichtenden Wunderkind Andreas Reimann, der Biermann gut kannte, bevor ich mich mit meiner damaligen Frau selber zu ihm auf den Weg machte, um ihn leibhaftig kennenzulernen. Doch da hatte ich schon meine ersten elf Monate Stasi-Haft hinter mir.

Seine Mietswohnung befand sich gegenüber der bundesdeutschen Ständigen Vertretung. Sie lag im zweiten Stock und hatte eine große Flügeltür, die sich auf unser Klopfen hin einen Spalt breit öffnete, durch den uns Biermann musterte. Wir durften eintreten. Das Zimmer kannten wir schon vom Plattencover „Chausseestraße 131“ her. Zum Sitzen lud er uns vorerst nicht ein. Er ergriff seine Gitarre und begann ein halbstündiges Konzert, wobei er sang und schrie, als hätte er ein tausendköpfiges Publikum vor sich. Natürlich waren wir beeindruckt. Ich hatte ihm zuvor Gedichte von mir zugesandt, aber darauf ging er nicht ein.

Er stellte mich als persönlichen Sekretär an

Am frühen Abend gab die Türklingel kaum Ruhe; die Bude wurde voll. Die Gäste kannten sich alle, auch seine geliebte Eva-Maria Hagen gehörte dazu, obwohl er damals mit Tine verheiratet war. Irgendwann wollte er uns seinen Gästen vorstellen, sagte jedoch nur, daß ich erst kürzlich aus dem Leipziger Stasi-Knast entlassen worden sei. Warum ich drin war? „Na, freche Texte, was sonst?“ Er schaute mich an und fragte: „Haste welche bei dir?“ Leise antwortete ich, daß ich ein paar Kapitel eines experimentellen Romans bei mir hätte, aber keine Gedichte. Er forderte meine Prosa und verschwand in einem Nebenraum. Es wurde immer später, meine Frau und ich wollten den Heimweg nach Heidenau bei Dresden antreten, doch der Meister ließ sich nicht sehen. Das Publikum verstand sich selber zu unterhalten, zumal Tine belegte Brote aufbot. 

Endlich kam Wolf aus seinem Zimmer und verschaffte  sich mit Gesten Ruhe. Dann sagte er leise und auf mich weisend: „Hier steht ein Talent, da können Fries und Brasch einpacken.“ Mir Provinzpflanze war das peinlich. Ich kannte damals weder Fritz Rudolf Fries, der später als IM „Pedro Hagen“ enttarnt wurde, noch konnte ich mit dem damals kaum veröffentlichten Bonzensohn Thomas Brasch viel anfangen, dem ich lediglich ein Gedicht gewidmet hatte, als er 1968 wegen seines Protestes gegen den Einmarsch in die CSSR mit weiteren Freunden verhaftet worden war.

Auf alle Fälle meinte es Biermann ernst, denn er besuchte mich sogar mit Dresdner Künstlerfreunden in Heidenau und blieb anschließend fünf Tage bei uns. Er erzählte, wie viele Freunde wegen der Verbreitung seiner Lieder schon in den Knast gekommen waren und dann zumeist im Westen landeten. Er habe kaum noch Kraft, neue Freundschaften zu schließen, wenn sie immer wieder unterbrochen würden. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, denn ich hatte bereits einen Ausreiseantrag laufen und war gar nicht nur seinetwegen nach Berlin gefahren, sondern wegen des Besuchs bei dem Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, den Biermann später als „Menschengroßhändler“ bezeichnete.

Ich hatte die Nase voll von diesem Staat, dessen zynisches Wesen ich nicht nur in meinen elf Monaten Stasi-Untersuchungshaft gründlich kennenlernen durfte. Doch solchen mutigen Sängern wie Biermann beizustehen, war das nicht ebenfalls ein lohnendes Ziel? Er sang so herzzerreißend: „Und was wird aus unseren Freunden, / und was noch aus dir, aus mir? / Ich möchte am liebsten weg sein / und bleibe am liebsten hier ...“

Wegen meines Ausreiseantrages, dem ich durch eine Unterschriftensammlung zusammen mit einem Freund Nachdruck verleihen wollte, kam ich im Mai 1974 wieder in den Knast, verurteilt zu viereinhalb Jahren. Wolf besorgte mir den Anwalt Vogel und wollte mein Romanmanuskript im Westen veröffentlichen, aber Vogel riet streng ab. Biermann hielt meine Frau finanziell über Wasser und widmete mir eine Strophe in seiner „Ballade vom Aale-Räuchern“. Er übergab schließlich einen Kassiber von mir seinem Freund Robert Havemann, der zur NS-Zeit mit Erich Honecker im Zuchthaus Brandenburg gesessen hatte. Havemann schrieb an seinen „lieben Kameraden und Genossen“ einen mahnenden Brief. Postwendend schickte Honecker einen Staatsanwalt nach Cottbus, wo ich nach 401 Tagen Kellereinzelhaft wegen „guter Führung“ sofort entlassen wurde. 

Als ich in den Westen ging, war ich für ihn gestorben

Ich bekam im Gegensatz zu dem für Haftentlassene üblichen Ersatzausweis PM 12 sofort einen neuen Personalausweis mit der Berufsbezeichnung „Schriftsteller“ ausgestellt, obwohl mich die eingesetzten Stasi-Literaturexperten wegen meiner Texte, die sie Hetz-Pamphlete nannten, erst richtig niedergemacht hatten. Sogar zu Wolf durfte ich ziehen, obwohl es für Ost-Berlin eine Zuzugssperre gab. Sollte sich unter Honecker doch etwas verbessert haben? 

Als Honecker neben Bundeskanzler Schmidt 1975 in Helsinki saß und Entspannung feierte, saß ich in einer feuchten Kellerzelle, wo ich meinen Geburtstag feierte und das Biermann-Lied sang: „Nun bin ich dreißig Jahre alt / Und ohne Lebensunterhalt / Und hab an Lehrgeld schwer bezahlt / Und Federn viel gelassen ...“

Wolf hielt mich aus und stellte mich als seinen persönlichen Sekretär an, damit man mich nicht wegen „asozialen Verhaltens“ einsperren konnte. Außerdem zog er dem als geizig geltenden Stefan Heym 4.000 Mark für mich aus dem Kreuze, und auch Volker Braun übergab mir eine große Summe. Das erste Mal hatte ich ein Konto und keine Geldsorgen. Biermann hatte erst recht keine, immer wieder unterstützte er Opfer der SED-Justiz, was ihm den Spitznamen „Roter Pfarrer“ einbrachte.

Nach meiner Haftentlassung wurde ich richtig krank, war total erschöpft. Wolf stellte die Klingel ab, saß stundenlang an meinem Bett und sang leise Lieder zur Gitarre. Seine Tine machte mir kalte Umschläge auf meine heiße Stirn. Später nahm er mich mit zu seinem vertrauten Sportarzt, auch zum Training in ein Freibad. 

Als ich trotzdem seinen Kreis verließ und am 1. September 1976 in den Westen durfte, weil ich die SED-Diktatur satt hatte, war ich für ihn gestorben, war übern Jordan gegangen, wie es so hieß. Was für eine Überraschung, daß er mir schon wenige Wochen darauf unfreiwillig folgte, denn er wurde nach elf Jahren Berufsverbot infolge eines Mitte November 1976 genehmigten Gastauftritts in Köln „ausgebürgert“. Als er jedoch im ersten Interview sagte, er wäre „vom Regen in die Jauche“ gekommen, da platzte mir der Kragen, zumal er sich mit DDR-Verstehern wie Wallraff oder Dehm umgab. Mit solchen politischen Idioten wollte ich nichts zu tun haben. 

Trotzdem verfolgte ich weiterhin seine Auftritte und Veröffentlichungen, und wenn wir uns zufällig auf Tagungen begegneten, dann widmete er mir zwar sein neuestes Büchlein, aber nicht, ohne mit linker Hand von rechts nach links in Spiegelschrift gegen meine ihm rechts scheinende Haltung anzuschreiben.

Irgendwann begann ich wieder auf Veranstaltungen Gedichte von Biermann zu zitieren, denn mir fiel auf, daß er nicht mehr so überzeugt war vom Kommunismus. Es sollte allerdings noch Jahre dauern, bevor er davon abließ, nachdem er in Paris durch Manès Sperber endlich von dieser Utopie geheilt wurde.

Danach war eine Versöhnung möglich. Im Herbst 2012 nahm Wolf meine Einladung an, in unserer Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus ein Benefizkonzert zu geben. Er lud mich sowohl zu seiner Buchpräsentation als auch zu seiner Geburtstagsfeier ins Berliner Ensemble ein. Friede, Freude, Eierkuchen? Nein, seine Sympathie für die Politik der Kanzlerin Merkel kann ich nach wie vor nicht teilen.





Wolf Biermann: Geboren am 15. November 1936 in Hamburg als Sohn eines jüdischen kommunistischen Werftarbeiters, der 1943 im KZ Auschwitz ermordet wurde, siedelte Biermann als Sechzehnjähriger mit Hilfe der westdeutschen KPD in die DDR über. Rasch geriet er dort ins Visier der Staatssicherheit. 1965 erhielt er ein Auftritts- und Publikationsverbot, 1976 wurde er ausgebürgert. Heute lebt er wieder in seiner Heimatstadt. Kürzlich erschien seine Autobiographie „Warte nicht auf beßre Zeiten!“ (JF 43/16).