© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

„Es geht mittlerweile nur noch um die Rendite“
Krankenhaus-Report: Einblicke in die deutsche Drei-Klassen-Medizin / Teurere Standards und mehr Patienten bei stagnierenden Einnahmen?
Verena Inauen

Das Wochenende nähert sich und Schwester Martina steht gemeinsam mit zwei Kolleginnen der Nachtdienst in einem brandenburgischen Krankenhaus bevor. Die Abendvisite ist schon erledigt, in der übervollen Station für „Innere Medizin“ kehrt Ruhe ein. Die drei Damen plazieren die vielen Patientenunterlagen sortiert nach Alphabet, Verletzung und Art der Versicherung in ihren Schränken ein.

Warum eigentlich die Versicherung ein Trennungskriterium ist, fragt die jüngere Beate ihre Kolleginnen. Das leidige Thema der Zwei-Klassen-Medizin, denkt sich Martina und fängt schon mal an, Teewasser aufzusetzen. Unterschieden wird mittlerweile nämlich längst nicht mehr nur die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) als die eine Klasse und eine private Voll- oder Zusatzversicherung (PKV) als die andere Klasse.

Ohne Privatpatienten rechnet es sich nicht

Selbstzahler und Privatversicherte bilden eine dritte Klasse und verschärften die Problematiken im Gesundheitswesen signifikant. Während ein Durchschnittspatient mit gesetzlicher Versicherung oft Monate bis hin zu Jahren auf einen Operationstermin warten muß, wird der Zusatzversicherte schon einige Wochen eher behandelt, der Privatversicherte könne sich den Termin sogar aussuchen, heißt es im Gespräch der drei Krankenschwestern.

Die JUNGE FREIHEIT machte die Probe aufs Exempel und stellte einen erschreckenden Wahrheitsgehalt dieses nächtlichen Tratsches fest. Für die Erstuntersuchung der Schilddrüse in den entsprechenden Ambulanzen muß ein klassischer GKV-Versicherter bis zu neun Monate auf einen Termin warten. Eine freundliche Empfangsassistentin in Berlin verwies die fiktive Patientin Lena allerdings auf private Einrichtungen, da sich auch die Kassenärzte nur durch GKV-Versicherte allein nicht mehr über Wasser halten könnten. In Privatpraxen müsse man zwar bis zu 190 Euro selber bezahlen, ein entsprechender Termin sei aber schnell verfügbar.

Gerade als die Diskussion der Krankenschwestern ihren Höhepunkt findet und mit ungleichen Bedingungen, sozialen Schwächen und dem Gesundheitswesen in Deutschland abgerechnet wird, kommt Dr. Ulf B. in den Aufenthaltsraum. Achselzuckend erklärt er der Runde, daß doch irgendwer auch die Gehälter der Damen bezahlen muß. Durch das System der gesetzlichen Kassen würde das längst nicht mehr gedeckt sein. „In vielen Krankenhäusern geht es mittlerweile nur noch um die Rendite und den ökonomischen Erfolg. Das hat zur Folge, daß immer weniger Ärzte in immer kürzerer Zeit immer mehr Patienten versorgen müssen“, gibt auch der Chef der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, in der Berliner Zeitung zu.

Die Schwestern sollten sich also ruhig über die Privatpatienten freuen, scherzt Doktor B. Er und seine Kollegen tun das auch. Sie sind Spezialisten auf dem Gebiet der Kieferchirurgie, Wiederherstellungsmedizin und Sportverletzungen. Große Flächen verbrannter Haut nach einem Autounfall oder haarfeine Risse im Meniskus gehören zu ihren Aufgabengebieten. Aber nur jene Narben, Sprunggelenke und Knie von PKV-Versicherten führen zu einem adäquaten Gehalt für die stundenlangen Operationen und jahrelange Studienzeit sowie Weiterbildung. Nachvollziehbar sei die Einstellung der Chefärzte allemal, sagt Martina zu ihren Kolleginnen.

Ärzte verbringen viel zuviel Zeit mit Papierkram

Die Königsklasse seien allerdings die Selbstzahler. Diese erhalten als einzige eine Rechnung mit dem realistischen Wert ihrer Behandlung. Eine Blind-darmoperation koste schon mal 2.000 bis 3.000 Euro, ein Hüftgelenk 7.000 Euro plus Krankenhausaufenthalt. Kaum eine Vorstellung von diesen Summen müssen hingegen Kassenpatienten haben. Und das bekommen sie auch zu spüren. Untergebracht in Großschlafsälen mit bis zu sechs Personen, ist der Genesungsfortschritt sogar für den Arzt fraglich.

Ändern kann er an diesem Umstand aber kaum etwas, die Verwaltung sei beschäftigt genug, die Zahl der Gangbetten zu reduzieren. Dort liegt, wer keinen Platz mehr im Zimmer findet, kurz vor der Operation steht und noch dazu Kassenpatient ist. Der digitale Ruf nach der Krankenschwester kurze Zeit später läßt sich keinem Zimmer zuordnen. Herr Müller ist einer jener Patienten, die nur wenige Meter von der Krankenpflegestation entfernt liegen. Eine Eisenstange fiel während Konstruktionsarbeiten zu Boden und verletzte den Bauingenieur schwer an Kopf und Schultern. Es ist der erste Unfall in seinem 40jährigen Leben. Auch krank war der Norddeutsche bisher kaum. Mit einem Einkommen aus der oberen Mittelklasse und entsprechenden Versicherungsbeiträgen hatte er darum bislang auf das deutsche Gesundheitssystem vertraut.

Er wird noch einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen, die Privatsphäre und Ruhe wäre aber ausgerechnet jetzt erforderlich. Ein Zimmer wird erst in zwei Tagen frei. Bis dahin finden sowohl die intimen Kontrollen als auch Visiten der Ärzteschaft im Gang statt. Der provisorisch aufgebaute Paravent ändert dabei kaum etwas an der Lage. Obwohl er einen nicht unerheblichen Teil seines Gehaltes in den Erhalt des Gesundheitssystems einzahlt, werden die Bedingungen zunehmend schlechter.

Der Chirurg Tobias F. erklärt sich das durch immer weniger tatsächlich einzahlende Patienten und immer höhere Standards, die es anzuwenden gilt. Er ist Assistenzarzt an einer hessischen Klinik und schildert der JUNGEN FREIHEIT zermürbende Zustände an städtischen Einrichtungen. Obwohl etwa die Technologie zur flächendeckenden Verbesserung von Datenerfassungen vorhanden wäre, würden Ärzte viel zuviel Zeit mit „Bürokratie und Papierkram“ verbringen: „Den Mehrwert, den Patienten durch eine digitale Aufrüstung hätten, wäre das Geld auf jeden Fall wert.“ Die kurze übrige Zeit nach der Schreibarbeit bleibe aktuell vermehrt für Privatpatienten, die für die Leistung des Personals entsprechend mehr bezahlen.

Zwar dürften sich laut F. die Zusatzleistungen nur in der Unterbringung, Verpflegung und dem Anspruch auf die Behandlung durch den Chefarzt unterscheiden, in der Praxis sieht das aber oft anders aus. Viele Ärzte hätten sogenannte „Belegbetten“, in denen sie ihre Privatpatienten unterbringen, während Kassenversicherte länger warten müssen. Besonders dramatisch seien die Zustände allerdings in Zusammenhang mit gewöhnlichen Krankheitsbildern wie etwa Husten, Halsweh oder Bauchweh. Symptome, bei denen für gewöhnlich der Hausarzt aufgesucht wird. Immer öfter kommen solche Patienten aber aufgrund der langen Wartezeiten bei Vertragsärzten kurzerhand ins Krankenhaus, was den Betrieb oftmals überfordert.

Die katastrophalen Bedingungen in der Versorgung bekommen aber nicht nur Kassenpatienten zu spüren, sondern auch Privatversicherte, wenn sie in kleineren Städten oder auf dem Land leben. Mit einem Schwerverletzten gelangt der Betrieb an seine Grenzen, mit zwei Unfallpatienten gleichzeitig ist das wenige Personal bereits überfordert, wie auch eine Reportage von RTL ergab. Der von Ärztevertretern stets geforderte Zuschuß von 50 Prozent für einen Landarzt wurde allerdings nie verwirklicht.

„Wir jammern auf hohem Niveau“

Planstellen fehlen darum weiterhin und ziehen die frisch ausgebildeten Ärzte eher in Ballungsräume, um dort einer schnellen Karriere nachzujagen. Obwohl das deutsche Gesundheitswesen im Vergleich zu etlichen anderen europäischen Staaten einen guten Ruf genießt, zieht es immer mehr junge Mediziner ins Ausland. Neben geregelten Maximalarbeitszeiten lockt auch ein attraktiveres Gehalt für die verantwortungsvolle Arbeit mit und am Menschen. Zu enorm langen Arbeitszeiten und wenig Erholungsphasen führen die Einsparungsmaßnahmen allerdings in Deutschland. Zwischen 100 und 400 Überstunden haben viele Ärzte pro Jahr auf ihrem Konto stehen, klagt der Chef des Landesverbandes Berlin-Brandenburg im Marburger Bund, Kilian Tegethoff: „Wenn die Ärzte diese Überstunden mit Urlaub ausgleichen, fehlen sie zehn Wochen. Da bricht der ganze Klinikbetrieb zusammen“, spitzt er die Lage gegenüber der B.Z. zu. Eine humane Behandlung von Patienten komme schließlich nur durch humane Arbeitszeiten des Personals zustande. 

Unabhängig voneinander plädieren sowohl die betroffenen Patienten, als auch Ärzte und Pflegepersonal im Gespräch für ein rasches Handeln der verantwortlichen Politiker. „Wir haben eine Versorgungspflicht. Damit diese aber auch adäquat gewährleistet werden kann, muß sich von der Spitze etwas ändern. Einzelne können die Umstände nicht flächendeckend ändern“, ist sich das medizinische Personal einig. Jedes Jahr kämen neue, noch teurere Standards im medizinischen Bereich dazu, während das Budget aber durch die Beiträge nach oben gedeckelt sei, schildert Dr. B.

Problematisch könnte sich in Zukunft auch die wachsende Zahl der Zuwanderer auswirken, die zwar Leistungen in Anspruch nehmen, aber in der Regel kaum einzahlen. Schon jetzt erhöhen viele Versicherer ihre Beiträge. Ein weiterer Faktor sei der demographische Wandel. Immer mehr ältere Patienten müssen versorgt werden, wodurch der Regelbetrieb auf der Strecke bleibe. „Unser Gesundheitswesen ist momentan Spitzenreiter. Wir jammern auf hohem Niveau. In spätestens 30 bis 40 Jahren wird das heutige System aber nicht mehr tragbar sein“, ist sich Assistenzarzt F. sicher.

Eckdaten zur Krankenhausstatistik:  dkgev.de/

Foto: Ärztin mit vier Erkrankten: Die Kassenzugehörigkeit bestimmt den betriebswirtschaftlichen Ertrag und oftmals auch die Reihenfolge der Patienen