© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

„Einfach nicht realistisch“
Nord- und Ostsee: Der Gegensatz von Ökonomie und Ökologie verhindert optimalen Meeresschutz
Rainer Oertel

Ein Dutzend internationaler Vertragswerke scheint die Ozeane effektiv zu schützen. Unter ihnen ist das Internationale Übereinkommen zur Regelung des Walfangs (IWC) das bekannteste, die Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ/Unclos) das umfassendste Abkommen. Doch wie alle anderen der Hohen See geltenden völkerrechtlich verbindlichen Regelungen kranken sie an unzureichender, ökonomischen Rücksichten geschuldeter Umsetzung. Der Meeresbiologe Fabian Ritter (Whale and Dolphin Conservation/WDC) formuliert anschaulich, wenn er klagt, daß bei einem vermeintlich dichten Normengeflecht „der Wind durch alle Löcher pfeift“.

Für 14.000 Gebiete gibt es Schutz nur auf dem Papier

Ähnlich plastisch beschreibt die für die Meeresschutzorganisation Ocean Care im Mittelmeer tätige Biologin Silvia Frey die tiefe Kluft zwischen gesetzlichen Schutzzielen und den von ungehemmtem Artenschwund, industrieller Ausbeutung, Vermüllung und Überfischung geprägten ozeanischen Realitäten. Wie das mediterrane Pelagos-Reservat vor den Küsten zwischen Sardinien, dem italienischen Festland, Monaco und der Côte d’Azur, wo Frey die Verbreitung der durch „Dauerbeschallung“ gestörten und von Fischerei dezimierten Populationen von Meeressäugern erforscht, handele es sich auch bei den anderen knapp 14.000 Schutzgebieten weltweit, die der Atlas für Marine Protected Areas verzeichnet, eher um „paper parks“, die Schutz nur auf dem Papier garantieren.

Für die Umweltjournalistin Bettina Kelm, die die so griffigen wie desillusionierenden Befunde von Ritter und Frey in ihren Beiträgen über die aktuelle Lage zitiert (Natur, 9/16), stellen sich Frustrationen ein, nicht nur mit Blick auf viel Papier produzierende, aber geringe praktische Fortschritte erreichende Institutionen wie UN und EU.

Auch der selbsternannte umweltpolitische Musterknabe Deutschland fällt bei ihr unangenehm auf: Berlin spiele offenbar gern auf Zeit, wenn es um die Umsetzung und Durchsetzung von internationalen Regelwerken in konkrete nationale Maßnahmen gehe. So fehle es bis heute für Ostsee und Nordsee, schon seit 2007 mit der Hälfte ihrer Gewässer als Schutzgebiete deklariert, an Verordnungen, um dort Fischerei, Rohstoffabbau oder militärische Übungen einzudämmen.

Erst in diesem Frühjahr legte die Bundesregierung Entwürfe für neun Schutzgebiete vor. Diese stießen bei Umweltverbänden auf Ablehnung, weil sie nicht, wie auch von Kelm erwartet, die „einzigartige Chance“ wahrnahmen, am Sylter Außenriff, dem wichtigsten Fortpflanzungsraum der akut vom Aussterben bedrohten Schweinswale und dem Habitat seltener Seevögel, ein weitgehendes Nutzungsverbot zu verhängen. Auch in sensiblen Arealen wie der östlichen Deutschen Bucht oder der Pommerschen Bucht ist dies nicht geplant.

Die Entwürfe hätten, wie Kelm als Lautverstärker von Nabu und BUND kritisiert, einmal mehr nicht dem Schutz von Arten und Lebensräumen Priorität eingeräumt. Lediglich das Einbringen von Baggergut, die Ansiedlung von Aquakulturen und die Ausbringung gebietsfremder Arten zu verbieten, sei doch kein angemessener Ersatz für die von Umweltschützern geforderte restriktive Handhabung wirtschaftlicher und militärischer Begehrlichkeiten. So sehen die Entwürfe keine Regelungen für den Sonar-Einsatz oder Sprengungen seitens der Deutschen Marine vor. Nicht explizit verboten seien Großprojekte wie Offshore-Windparks oder Ölplattformen, die Suche nach Rohstoffvorkommen mit seismischen Hilfsmitteln oder der Kies- und Sandabbau. Und die Aktivitäten der Berufsfischer habe man ohnehin nicht beschneiden können, da sie in die Zuständigkeit der EU-Fischereipolitik fallen.

Natur- und Artenschutz leiden unter Energiepolitik

Für Kelm gehorchen diese Entwürfe erneut dem amtlichen Imperativ, den Naturschutz wirtschaftlichen Interessen zu opfern. Wie sie jedoch selbst unter Hinweis auf die „unglücklichen Ausnahmeregelungen“ im Bundesnaturschutzgesetz von 2010 bemerkt, wäre es ehrlicher, von einer paradoxen Interessenskollision zwischen der ökologisch motivierten Energiepolitik und der originären Ökopolitik des Natur- und Artenschutzes zu sprechen.

War es doch fast zwingend, daß die projektierten Offshore-Windparks Butendiek am Sylter Außenriff – eben dort, wo sich die Schweinswale fortpflanzen –, Dan Tysk, Amrumbank West und Borkum Riffgrund II ungeachtet „eklatanter Versäumnisse in bezug auf geltendes Naturschutzrecht“ tatsächlich genehmigt worden sind. Wenn die Nordsee jetzt schon eher einer „Industrielandschaft“ als einem Naturraum mit großen Rückzugsgebieten für die Meeres- und Vogelfauna gleicht, dann ist das eben der von Kelm als solcher nicht erkannte Preis für eine forciert auf erneuerbare Energie setzende Politik.

Ob unter diesen Voraussetzungen die Nord- und Ostsee besser geschützt werden kann? Wenn nun, wie nicht nur die deutsche Sektion des WWF fordert, die für Windparks gesetzlich verbindlichen, aber verdächtig oft zugunsten ihrer Betreiber ausfallenden Verträglichkeitsprüfungen nun auf die Fischerei ausgedehnt werden? Das scheint fraglich. Immerhin klagten Umweltverbände 2015, um die Grundschleppnetz- und die Stellnetzfischerei in Natura-2000-Gebieten einer solchen Verträglichkeitsprüfung zu unterwerfen. Sollte dem stattgegeben werden, wäre dies aus WWF-Sicht ein „Meilenstein für den Naturschutz“ – zugleich aber wohl das Ende der Küstenfischerei, von der, wie der Deutsche Fischereiverband behauptet, im Vergleich mit Offshore-Parks, Militär und Handelsschiffahrt noch die geringsten Beeinträchtigungen mariner Lebensräume ausgingen.

Daß die Bundesregierung aufgrund energiepolitischer Zwänge weder die Einrichtung von „Nullnutzungszonen“ noch, wie von Umweltverbänden verlangt, „mindestens 50 Prozent der Schutzgebietsflächen extraktiver menschlicher Nutzung“ entziehen kann, geht aus Empfehlungen hervor, die das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung in Abstimmung mit dem Bundesumweltministerium im Februar 2016 vorlegte: Statt der ökologisch wünschbaren 50 Prozent konzedierte man 0,3 Prozent, die in Schutzgebieten der Fischerei und anderen Nutzern versperrt bleiben sollen.

Im von Kelm konsultierten Bundesamt für Naturschutz zeigt man sich damit zufrieden, denn es sei angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung von Nord- und Ostsee „einfach nicht realistisch“, in Schutzzonen einer Größenordnung von 8.000 Quadratkilometern hundertprozentige Einschränkungen zu verfügen.

Übereinkommen zur Regelung des Walfangs: iwc.int

Whale and Dolphin Conservation gGmbH: de.whales.org

DanTysk Offshore Wind GmbH & Co.KG: www.dantysk.de