© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Grüße aus Wien
Zerstörter Mythos
Michael Link

Irgendwie haftet ihrem Namen etwas Mythisches an: der Seestadt Aspern. Immer wieder haben in den vergangenen Jahren die lokalen Medien von diesem neuen Stadtteil im 22. Wiener Gemeindebezirk jenseits der Donau berichtet, einem der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas der 2010er Jahre. Über 20.000 Menschen sollen dort einmal wohnen und arbeiten, deutlich mehr als in der burgenländischen Hauptstadt Eisenstadt.

Andere mögen eher Venedig mit einer Seestadt assoziieren, doch in mir kamen beim Vernehmen dieses Namens immer noch Bilder von nebelverhangenen Sümpfen und sogar verborgenen Seeungeheuern à la Loch Ness auf.

Vor einigen Monaten wurde bereits die U-Bahn-Linie U2 verlängert, um das Zentrum mit diesem ehemaligen Stück Ostpampa nahe dem Nirgendwo zu verbinden. Und dann hörte ich, daß bereits die ersten Familien einziehen können.

Überall ragen Baukräne in die Höhe, während so manche Grünfläche dahinschwindet.

Wie mag es wirklich dort aussehen? fragte ich mich. Auf in die Seestadt! Zwölf Stationen weit führte mich die U2 ab der Station Praterstern, durchwegs überirdisch, über eine mir zunehmend fremde Heimatstadt, bis ich nach einer gefühlten Stunde die Endstation Seestadt erreichte. Moderne Wohnhäuser, dazwischen ein paar Baukräne, neben dem U-Bahn-Ausgang ein Teich. Zu klein für ein Seeungeheuer, aber groß genug, um darin allen Mythos zu versenken.

Wieder unbeschadet nach Hause gekommen, nutzte ich mein Rest­interesse, im Internet noch ein wenig zur Seestadt zu recherchieren: Ich las, daß dort das bis dato höchste Holzhaus der Welt errichtet werden soll. Und daß die Seestadt auf dem ehemaligen Flugfeld Aspern gebaut wird, dem von 1912 bis nach dem Zweiten Weltkrieg größten Flughafen Österreichs.

Ein spannender Gedanke, wie sich Wien verändert, und wie stark diese Stadt seit der Jahrtausendwende gewachsen ist. Vor allem in meinem Wohnbezirk ragen überall Baukräne in die Höhe, während manch Grünfläche dahinschwindet.

Jetzt hoffe ich, daß uns die Prater Au noch lange gänzlich erhalten bleiben wird, auch nach Überschreiten der zwei Millionen-Einwohner-Marke Wiens. Wo sonst kann ich mich denn in dieser Stadt so gut erholen, zwischen Donau und Wurstelprater, dort wo es zumindest in der Grottenbahn noch Drachen und Elfen gibt? Und wer weiß: Vielleicht ist auch das Seeungeheuer nicht weit.