© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Türkei
Und Europa schaut zu
Jürgen Liminski

Erdogan hat wieder eine rote Linie überschritten – die Beobachtungsgabe von Martin Schulz ist erstaunlich. Nicht weil der Präsident des EU-Parlaments rote Linien zählt, sondern weil seine Beobachtungen immer noch folgenlos bleiben. 

Der Rechtsstaat wird ausgehebelt, die Pressefreiheit abgeschafft, das Parlament gleichgeschaltet, 169 Zeitungen, 137 Schulen und 15 Universitäten wurden geschlossen, 110.000 Beamte entlassen, es regnet Bomben auf kurdische Zivilisten. Demnächst kommt wieder die Todesstrafe – vermutlich würde Brüssel weiter mit Erdogan über einen EU-Beitritt verhandeln, auch wenn Ankara der EU den Krieg erklärte.

 Das Land am Bosporus entwickelt sich zu einer islamischen Diktatur, einem Kalifat, das den Westen verachtet. „Der Westen zählt nicht“, sagt der Diktator öffentlich. In seinem Palast, der viermal so groß ist wie das Schloß von Versailles, hat Erdogan inzwischen Mühe, neue rote Linien zum Überschreiten zu finden. Und Europa duckt sich. Man fürchtet das Platzen des Türkei-Deals. Aber die Balkanroute ist dicht, und das Vertreiben der Flüchtlinge würde die Türkei selbst in große Schwierigkeiten bringen. Was Berlin und Brüssel fehlt, ist der Mut, die Wirklichkeit beim Namen zu nennen. Schulz zählt immerhin die roten Linien.