© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

Der Flaneur
Weihnachten im Oktober
Bernd Rademacher

Die russischen Fernfahrer bitten den Leiter der Schlachterei, sich Leitungswasser abfüllen zu dürfen, damit sie sich auf dem Parkplatz das Gesicht waschen und die Zähne putzen können. Seit Wochen kampieren sie in den Fahrerhäuschen ihrer Lkw.

 Der Grund: Sie sollen Fleisch nach Osteuropa fahren, aber ihre Autos werden aus gutem Grund nicht eher beladen, bis das Geld für die Ware auf dem Konto des Lieferanten gutgeschrieben ist. Und damit lassen sich die russischen Importeure Zeit, mitunter wochenlang.

Die Zustände auf dem schäbigen Parkplatz sind erbärmlich. Für eine Unterkunft im Fernfahrer-Motel fehlt den Lenkern schlicht das Geld. Und langsam geht auch das spärliche Taschengeld zur Neige. Die tägliche Essensration wird immer dürftiger. So hausen sie in den Kabinen ihrer Zugmaschinen, stehen herum, reden über Gott und die Welt und rauchen. Was sollen sie auch sonst tun?

Den Mitarbeitern des Großschlachters blieb das Elend auf dem Parkplatz nicht verborgen.

Einer erzählt von einem Kollegen, der in Duisburg eine Ladung gebrauchter Autoreifen aufladen sollte. Doch die Altreifen lagen nicht parat, sondern wurden einzeln von privaten Zulieferern gebracht. Am Tag kamen ein, zwei Pkw vorbei, die aus dem Kofferraum zwei oder vier Reifen auf seine Ladefläche wuchteten. Es habe mehr als fünf Wochen gedauert, bis sein Wagen voll war und er endlich wieder nach Hause fahren konnte.

Den Mitarbeitern des Großschlachters bleibt das Elend auf dem Parkplatz nicht verborgen. Nach mehr als vierzehn Tagen faßt sich der Chef dann ein Herz: Er öffnet die Kantine für die russischen Trucker. Sie können es nicht glauben, als sie vor der Essenausgabe stehen und statt kalter Konserven ein dampfendes Gulasch bekommen. Bezahlen müssen sie nichts. 

Der Unternehmer spielt die menschliche Geste herunter, doch es ist wie ein vorgezogenes Weihnachtsfest.