© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

„Völlig falsche Schlußfolgerungen“
Experte: Der Rechtswissenschaftler Dietrich Murswiek über die Irrtümer der „Reichsbürger“
Christian Vollradt

Was halten Sie von der Behauptung, die Bundesrepublik Deutschland sei kein souveräner Staat, sondern eine Firma, eine „BRD GmbH“?

Murswiek: Das ist völliger Unsinn. Richtig ist zwar die These, das Deutsche Reich sei völkerrechtlich nicht untergegangen. Die Menschen, die sich „Reichsbürger“ nennen, ziehen daraus aber völlig falsche Schlußfolgerungen, und manche lassen sich dadurch auch zu illegalen Handlungen verführen.

Stimmt es, daß das Deutsche Reich nicht untergegangen ist?

Murswiek: Hierzu kursieren auch in den „Qualitätsmedien“ ganz falsche Vorstellungen, auch wenn diese inhaltlich denjenigen der „Reichsbürger“ entgegengesetzt sind. So spricht beispielsweise die Süddeutsche Zeitung (22.10.2016) von „einer kruden, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter Nazis kolportierten Theorie vom nie untergegangenen Reich“. Daß das Deutsche Reich 1945 nicht untergegangen sei, sondern rechtlich fortexistiere, ist aber keine Halluzination von Rechtsextremen, sondern allgemeine Auffassung unter Staats- und Völkerrechtlern und entspricht vor allem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Nach dieser Rechtsauffassung führten die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und die Übernahme der Hoheitsgewalt durch die Alliierten nicht zum Untergang des Staates, sondern lediglich zu seiner vorübergehenden Handlungsunfähigkeit. Mit der Neukonstituierung der Staatsgewalt in den westlichen Besatzungszonen wurde dann nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die Handlungsfähigkeit des fortbestehenden Staates wiederhergestellt. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde juristisch gesehen nicht – wie es in der politikwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Literatur häufig formuliert wird – ein neuer Staat, die Bundesrepublik Deutschland, gegründet – auch wenn dieser Staat sich in seinen Verfassungsstrukturen vom „Dritten Reich“ fundamental unterscheidet. Die völkerrechtliche Kontinuität des Staates, der 1867 als Norddeutscher Bund gegründet und 1871 zum Deutschen Reich ausgedehnt wurde, ist trotz mehrfacher verfassungsrechtlicher Diskontinuität gegeben. Der Trugschluß der „Reichsbürger“ besteht in der Annahme, daß es heute noch ein „Deutsches Reich“ neben der Bundesrepublik Deutschland gebe. Richtig ist vielmehr, daß der Staat, der früher Deutsches Reich hieß, heute Bundesrepublik Deutschland heißt. Diese ist – wie das Bundesverfassungsgericht gesagt hat – als Völkerrechtssubjekt mit dem Staat, der früher Deutsches Reich hieß, identisch. Bundesrepublik Deutschland ist der neue Name des fortexistierenden Völkerrechtssubjekts. Eine rechtlich-konstruktive Schwierigkeit bestand darin, daß das Territorium der Bundesrepublik sich auf einen Teil des Territoriums Deutschlands beschränkte, während auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone die DDR entstand und die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie unter polnischer Verwaltung standen. Deshalb war die Bundesrepublik nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts mit dem fortbestehenden deutschen Staat als Rechtssubjekt identisch, in territorialer Hinsicht jedoch nur teil-identisch. Diese Inkongruenz ist 1990 mit der Wiedervereinigung und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag entfallen.

Oft hört man in diesem Zusammenhang, das Grundgesetz sei gar keine Verfassung.

Murswiek: Falsch. Das Grundgesetz ist von Anfang an die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Der Name „Grundgesetz“ sollte allerdings darauf hinweisen, daß diese Verfassung als vorläufige Verfassung konzipiert war, weil 1949 nicht das gesamte deutsche Volk in Freiheit über die Verfassung entscheiden konnte. Dies ändert aber nichts daran, daß das Grundgesetz uneingeschränkt als Verfassung gilt – seit der Wiedervereinigung für das ganze Deutschland.






Prof. Dr. Dietrich Murswiek lehrt Öffentliches Recht an der Universität Freiburg (JF 39/12)

 

weitere Interview-Partner der JF