© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

„Reichsbürger“ als Gefahr
Symptom für das verlorene Vertrauen
Michael Paulwitz

Ein „Reichsbürger“, einer jener sonderbaren Zeitgenossen also, die die Bundesrepublik Deutschland für eine Fiktion und ihre staatlichen Institutionen und Hoheitsträger für rundweg illegitim halten, feuert auf Polizisten, die seine Waffen beschlagnahmen wollen, und erschießt einen Beamten. Glaubt man den professionellen Daueralarmschlägern in Politik und Medien, sind die bislang eher ignorierten oder belächelten „Reichsbürger“ der neue Gottseibeiuns. Der Fortbestand von Staat und Demokratie hänge davon ab, überall auch den letzten dieser Sonderlinge unter den Nachbarn oder im öffentlichen Dienst aufzuspüren und aus dem Verkehr zu ziehen.

Fraglos: Ein Mann, der sich im Wahn ermächtigt fühlt, Polizeibeamte zu töten, ist ein gefährlicher Straftäter, dessen Tat hart geahndet werden muß. Aber das macht die „Reichsbürger“ noch nicht zu einer quasi-terroristischen Untergrundbewegung. Für eine „Bewegung“ sind schon die Strömungen, die unter dem Schlagwort laufen, schlicht zu disparat. 

Da gibt es Gescheiterte, die die drückende Steuerlast nicht mehr tragen können oder wollen und abzutauchen versuchen; Geschäftemacher, die mit schönklingenden Titeln und Phantasiedokumenten auf Einnahmen- oder Spendenfang gehen; Wichtigtuer sind darunter, die gerne „Reichskanzler“ oder Reservekönig spielen, aber auch Überzeugungstäter, die Teilwahrheiten ideologisch verabsolutieren und tatsächlich vorhandene Souveränitäts- und Legitimitätsdefizite der real existierenden deutschen Republik einseitig und radikal zuspitzen.

Nicht einmal deren Zuschreibung als „rechts“ ist ohne weiteres stichhaltig. Wer glaubt, die Bundesrepublik Deutschland sei nichts weiter als eine „Finanzagentur GmbH“, scheint vielmehr der linken Standard-Denkschablone von der Allmacht der „Wirtschaft“ oder des „Kapitals“ über die Politik anzuhängen.

Daß solche Ideen überhaupt auf fruchtbaren Boden fallen, ist eher ein Symptom des schleichenden Legitimitätsverlusts des deutschen Staates als die Ursache dafür. Einem Staat, der schon seit längerem seine Kernaufgaben nur noch unvollständig erfüllt – die unparteiische Anwendung von Recht und Gesetz, die Gewährleistung der Sicherheit und Aufrechterhaltung der Ordnung und die Kontrolle über seine Grenzen –, reicht eine wachsende Zahl von Bürgern die innere Kündigung ein. 

Wer vor der eigenen Ohnmacht, der phrasenhaften Abgehobenheit der politischen Klasse und dem wie eine Gummizelle geschlossenen Stromlinien-Diskurs der veröffentlichten Meinung resigniert, flüchtet gern in seine selbstgebastelte eigene Welt, in der er etwas gilt und zu sagen hat. Statt Erscheinungen wie die „Reichsbürger“ zum staatsgefährdenden Popanz aufzublasen und sich mit großem Getöse daran abzuarbeiten, täten Politik und Medien besser daran, selbstkritisch zu fragen, warum immer mehr Deutsche ihnen mit der Flucht in bizarr anmutende Parallelwelten den Rücken kehren.