© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Gar keine schöne neue Welt
Demokratie 2.0: Yvonne Hofstetter formuliert soziologische Allmachtsträume und träumt von Big Data im Kampf gegen Rechts
Jost Bauch

Das hat es alles schon einmal gegeben: Anfang des 19. Jahrhunderts wollte der französische Soziologe Auguste Comte in Analogie zu den Entdeckungen der Naturwissenschaften eine „soziale Physik“ gründen, eine Soziologie, die genauso exakt wie die Naturwissenschaften die soziale Umwelt des Menschen planen und steuern könnte. Dieser Traum, Gott sei Dank unerfüllbar, hat seitdem die Soziologie nicht losgelassen.

Diese Allmachtsphantasie von der sozialen Kontrolle der sozialen Wirklichkeit hat in moderner Form auch die Computer- und Big-Data-Spezialistin Yvonne Hofstetter in ihrem Buch „Das Ende der Demokratie“ ergriffen. Sie beschreibt, wie Big Data mit künstlicher Intelligenz, ein „Internet der Dinge“ mit „Umgebungsintelligenz“, in eine neue Ära mündet: „den digitalen Imperialismus, die quantitative, in Zahlen ausgedrückte Herrschaft, ausgeübt auf den Grundlagen von Überwachung und Profiling und durchgeführt von intelligenten Maschinen“. 

Hofstetter weiß, daß entscheidungsfähige Maschinen gerade in der Politik die Demokratie unterhöhlen können. Mittels Überwachung und Profiling sind diese Maschinen in der Hand von kommerziellen Internet-Giganten in der Lage, die Spielregeln der Demokratie zu unterlaufen und direkt als „digitaler Imperialismus“ Macht auszuüben. Das letzte Drittel ihres Buches ist so auch gefüllt von Überlegungen, wie man diese digitale Anbietermacht wieder zähmen könnte. Indes die Aussichten sind nicht rosig. 

Mit den herkömmlichen Mitteln der demokratischen Kontrolle ist der Ausbreitung und Mißbrauchsmöglichkeit der künstlichen Intelligenz nicht beizukommen. So denkt sie über die Schaffung eines zweiten Internets als freiem öffentlichen Raum jenseits von kommerziellen Verwertungsinteressen nach, oder sie fordert ein „digitales Umgebungsrecht“, wo ethische oder rechtliche Justierungen von Anfang an in die Programmcodes eingearbeitet werden müssen.

So weit, so gut. Bis hierhin bewegen wir uns im Terrain eines Sachbuches und die Beschränkung auf die Deskription der Digitalisierung mit ihren Chancen und Gefahren hätte dem Buch gutgetan. Doch Hofstetter will mehr. Ihr Buch oszilliert zwischen Sachbuch und utopischem Roman. Plötzlich treten romanhaft Akteure wie Scott Muller auf, der eine künstliche Maschine bauen will, einen „Demokratiesimulator“. Diese Maschine soll die Komplexität einer demokratischen Gesellschaft abbilden und simulieren. Ist das Simulationsmodell komplex genug, soll es auch steuernd und korrigierend in politische Prozesse eingreifen können. „Wir können eine komplexe digitale Gesellschaft modellieren und eine Kontrollstrategie trainieren, die demokratiestärkende Entscheidungen trifft.“ Scott will anhand der Demokratie die Möglichkeit der kybernetischen Regelung der komplexen digitalen Gesellschaft erproben. 

Ein Demokratiemodell müsse die Komplexität der Gesamtgesellschaft abbilden, in politischen Alternativen denken, und es müsse die Risiken des Scheiterns der Demokratie kennen, eine Resilienz gegen demokratiefeindliche Bestrebungen entwickeln. Jetzt kippt das Buch von Hofstetter vollständig ins Romanhafte, sie entwirft ein Szenario für Frankreich, eine Simulation 2018, wo Marine Le Pen und der Front National die Wahlen gewonnen haben ( „ein politischer Unfall“) und nunmehr gegen alle Regeln der Demokratie regieren. Sie stürzen Europa ins Chaos: Grenzkontrollen, ja Grenzschließungen, Wirtschaftsprotektionismus, Handelszölle, Ausstieg aus dem Euro, Einführung einer Kunstwährung (bargeldloser digiFranc). 

Der Computer simuliert dieses Szenario und lernt dabei, was zu tun ist, um genau das zu verhindern. Er entwickelt ein Instrumentarium, um „Entgleisungen der Demokratie“ nach rechts zumindest zu erschweren. Der Kampf gegen Rechts wird digitalisiert. Der auf „Demokratie“ programmierte Groß-rechner lanciert so Meldungen in die Presse, die die Sache der vermeintlichen Demokratie befördern, er entwickelt „Nudging-Strategien“ („Anstupsen“), die die Bevölkerung animieren, doch auf den Populismus von rechts nicht hereinzufallen, er erstellt Dossiers von unliebsamen Personen, ein ganzes Arsenal von Maßnahmen wird bereitgestellt, auf die die Politik zurückgreifen kann. Das Buch bietet hier eine gefährliche Melange zwischen tatsächlich angelegten, aber noch nicht ausgereiften digital gestützten Politstrategien und der völlig undigitalisierten Phantasie der Autorin.

Sie lebt digitale Allmachtsphantasien aus, indem sie tatsächlich glaubt, daß es in nächster Zukunft gelingen könnte, solche künstlichen Maschinen wie den Demokratiesimulator herzustellen. Dazu müßte die künstliche Intelligenzmaschine die Komplexität einer Gesellschaft erfassen und steuern können. Man kann dieser Allmachtsphantasie nur erliegen, wenn man die soziologische Systemtheorie, wie sie von Niklas Luhmann entwickelt worden ist, nicht kennt. Und sie kennt sie nicht. 

Dort könnte sie lernen, daß für alle kybernetisch-systemtheoretischen Gesellschaftsmodelle die System/Umwelt Grenze konstitutiv ist. Jedes System muß sich von der Umwelt abgrenzen und Komplexität reduzieren. Steigert ein System seine Eigenkomplexität, so nimmt nolens volens die Komplexität auch der Umwelt zu, es gibt also keine objektivierbare Komplexitätsgrenze der Umwelt, die man durch Ausbau der systemischen Eigenkomplexität irgendwie erreichen könnte. Umweltkomplexität ist keine feste Größe, der man sich annähern kann. 

Die Wirklichkeit ist auch durch die Anwendung komplexer Erkennungs- oder Handlungssysteme nicht einholbar. Der Mensch bleibt von der letzten Erkenntnis der Wirklichkeit ausgeschlossen; das wird sich auch durch Digitalisierungsprozesse nicht ändern. Dazu kommt, daß es sich bei sozialen Systemen wie bei Menschen um „nichttriviale“ Maschinen handelt. Alles computergestützte Profiling nützt wenig, wenn man davon ausgehen muß, daß der Input in ein System unterschiedliche, nicht voraussehbare Outputs produziert. In der gesellschaftlichen Entwicklung wie beim Verhalten von Menschen ist man, Gott sei Dank, vor Überraschungen nicht sicher.

Yvonne Hofstetter: Das Ende der Demokratie. Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt. Verlag C. Bertelsmann, München 2016, gebunden, 512 Seiten, 22,99 Euro