© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Utopien zum freien Diskurs
Der britische Historiker Timothy Garton Ash preist die Redefreiheit als ein hohes Gut und träumt von gleicher Teilhabe in „gereiften Demokratien“
Karlheinz Weißmann

Über Freiheit ist kein Streit. Über Meinungsfreiheit auch nicht. Das Äußern von Ansichten und deren Austausch dienen der Klärung von richtig oder falsch, mehr noch, sie erlauben dem einzelnen, sich seiner selbst zu vergewissern und seine Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Streit ist aber darüber, welche Grenzen der Freiheit gezogen werden müssen und welche Grenzen der Meinungsfreiheit. 

Das ist an sich nicht neu, aber die Problematik erhält heute eine ungeahnte Bedeutung. In der „Post-Gutenberg-Welt“ erreichen Nachrichten und deren Deutungen in kürzester Zeit jeden Winkel des Globus, schreiben nicht mehr nur Fachleute oder Journalisten, sondern ist jedermann in der Lage, mit Hilfe eines Smartphones Text und Bild ins Netz zu bringen, steht der Zugriff auf die Informationswege viel stärker als früher auch dem Dummkopf, auch dem Ahnungslosen, auch dem Böswilligen offen.

Dem allen geht Timothy Garton Ash in seinem neuen Buch „Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt“ nach. Es verdankt seine Entstehung allerdings der Zusammenarbeit des Verfassers mit einer ganzen Reihe anderer, die gemeinsam die Seite www.freespeechdebate.com ins Netz gestellt haben. Ziel dieser Kooperation war es, nicht nur eine Analyse jener Prozesse zu liefern, die heute die Weitergabe von Informationen und Interpretationen, deren Verarbeitung und Deutung bestimmen, sondern auch etwas wie einen Codex zu schaffen, der hilft, Gedankenaustausch und Diskussion so zu gestalten, daß Mißbrauch der technischen Möglichkeiten und verzerrte Formen der Meinungsäußerung vermieden werden.

Die meisten der dabei erstellten Regeln sind unmittelbar einsichtig. Das beginnt mit der Feststellung, daß im Netz grundsätzlich alle zu Wort kommen sollten, die das wünschen, daß sie Zugang zu Informationen erhalten, unabhängig von ihrem Standort, ihrer Sprache oder Nationalität, daß die Zensur durch Staaten oder mächtige Unternehmen zu beschränken, mindestens aber kenntlich zu machen ist, daß Kontroversen offen, auch mit Schärfe geführt werden dürfen, die unmittelbare Bedrohung eines Gegners aber zu unterbleiben hat. 

Angesichts der dauernden Kampagnen gegen „Hate Speech“ ist besonders bemerkenswert, wie differenziert Ash hier urteilt. Ausgehend von der Tatsache, daß der Einfluß der Medien beim Entstehen individueller oder kollektiver Übergriffe zwar nur selten, dann aber eindrucksvoll nachgewiesen wurde – etwa im Zusammenhang des Völkermords in Ruanda – , votiert Ash einerseits für die grundsätzliche Ächtung der Gewalt-androhung, verlangt aber andererseits mehr Zurückhaltung bei den Versuchen, schon im Vorfeld juristisch aktiv zu werden. Seiner Meinung nach sollte die ganze gegen Haßrede gerichtete Gesetzgebung allmählich abgebaut werden.

Die in dem Zusammenhang entwickelte Argumentation gehört ohne Zweifel zu den stärksten Passagen des Buches. Denn Ash legt umfassend dar, in welcher Weise die internationale wie die nationale Gesetzgebung faktisch zur Maßregelung mißliebiger Äußerungen geführt hat. Denn anders als üblicherweise behauptet, sind „Antirassismus“, „Antisexismus“, „Antifaschismus“, Kampf gegen Homo-, Xeno- oder Islamophobie nicht an sich gut, sondern Teil eines konkreten Interessenkampfes. Ihre Durchsetzung als Teil der Leitideologie des Westens hat einen Wettlauf der Opfergruppen ausgelöst, deren Lobbyisten sich die Möglichkeit zunutze machen, immer neue Vorteile aus der Behauptung wirklicher oder vermeintlicher Beleidigung, Zurücksetzung, Bedrohung zu ziehen und die Strafverfolgungsbehörden zu teilweise grotesken Maßnahmen zu zwingen.

Man würde der Argumentation Ashs an dieser Stelle mit noch größerer Bereitwilligkeit folgen, wenn sie nicht verknüpft wäre mit einem Rahmenkonzept, dessen Prämisse ein „liberaler Internationalismus“ ist. Der läßt den Autor davon ausgehen, daß das Netz im Grunde nichts anderes ist als die kommunikative Entsprechung zur „werdenden Kosmopolis“, die Basis für eine Art globalisierte Demokratie, in der sich grundsätzlich vernünftige Individuen auf grundsätzlich vernünftige Weise miteinander austauschen und solchermaßen in der Lage sind, eine Art Gesellschaftsvertrag zu schließen, der ihre Rechte und Pflichten durch Konsens garantiert. 

Selbstverständlich leugnet Ash weder die Existenz großer staatlicher Akteure – die USA, Rußland, die EU, China, aber auch Indien oder Brasilien – noch das Vorhandensein mächtiger ökonomischer Interessen – von Google oder Microsoft, um nur die zu nennen –, nicht die Einflußnahme religiöser – vor allem muslimischer – Gruppen, noch die Fortexistenz weltanschaulicher Vorgaben – etwa des Kommunismus in seinen asiatischen Refugien. Aber trotzdem gibt er sich überzeugt, daß die Eine Welt vor der Verwirklichung steht, durch einen Akt historischer Notwendigkeit ins Leben getreten, von „Promenadenmischungen“ (Obama dixit) bevölkert, für die Herkunft und Glaube, Volkszugehörigkeit und Erziehung bestenfalls dekorative Elemente sind, jedenfalls nichts, das uns daran hindert, „sowohl unsere gemeinsame Menschlichkeit, das heißt alles, was wir als Menschen gemeinsam haben, als auch die milliardenfache Vielfalt der individuellen Unterschiede zu schätzen“. Ashs Angst, irgend etwas von dem ernst zu nehmen, was tatsächlich Identität stiftet, oder sich des „Essentialismus“ schuldig zu machen, steht ihm in bezug auf eine wirklichkeitsgerechte Sicht ebenso im Weg wie die Unfähigkeit, von jenem Entwicklungsgedanken Abschied zu nehmen, der letztlich doch nur den guten alten Fortschritt verkleidet und einen Optimismus nährt, für den kein Anlaß besteht.

Man kann natürlich als mildernden Umstand geltend machen, daß Ash diese Reflexionsdefizite mit allen modernen Liberalen teilt, die nie begreifen wollen, daß die Isegorie – also die gleichberechtigte Teilhabe aller Vernünftigen an der Debatte – zwar eine nette Utopie sein mag, aber nicht zu verwirklichen ist. Und daß diese Feststellung auch im Fall der von Ash so geschätzten „gereiften Demokratien“ Bestand hat, die unter liberaler Obhut noch jedesmal ihre institutionelle Macht nutzen, um nur das eigene Personal oder die, die man fürchtet, zu Wort kommen zu lassen.

Timothy Garton Ash: Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt.  Carl Hanser Verlag, München 2016, gebunden, 688 Seiten, 28 Euro