© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Mit dem falschen Sturmgepäck
Jens Westemeier über den „Fall“ des Romanisten Hans Robert Jauß und die Schrumpfung abendländischer Ideale zu „SS-Werten“
Dirk Glaser

Nach den Namen der bedeutendsten deutschen Romanisten des 20. Jahrhunderts gefragt, würden Wissenschaftshistorikern wahrscheinlich zuerst Ernst Robert Curtius und Erich Auerbach einfallen. Die Verlagswerbung einer Monographie über Hans Robert Jauß exponiert jedoch diesen 1997 verstorbenen Literaturtheoretiker als den Gelehrten, der die Romanistik „im 20. Jahrhundert geprägt hat wie kein anderer“.

Dabei beschäftigt sich Jens Westemeiers Arbeit kaum mit dem derart aufs Podest gehobenen Mitbegründer der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik, der, ein Treppchen tiefer, zumindest als der auch interdisziplinär einflußreichste bundesrepublikanische Fachvertreter anzusehen ist. Um ihm gerecht zu werden, wäre der 2009, 43jährig an der Universität Potsdam über „Joa-chim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit“ promovierte, seit 2014 dort als Lehrbeauftragter beschäftigte Fachmann für „Kulturen der Gewalt“ allerdings schwerlich kompetent.

Aber letztlich soll die Prominenz des Neuphilologen Jauß ja das Empörungspotential eines neuen Falles akademischer „Vergangenheitsbewältigung“ erhöhen. Nach dem Muster, wie es sich von Martin Heidegger bis Theodor Eschenburg bewährt hat. Zu diesem Zweck zeichnet Westemeier auf knapp 200 Seiten minutiös den Lebensweg des 1921 geborenen Göppinger Lehrersohns nach, vom Aufstieg zum HJ-Führer bis, im Herbst 1939, zum Eintritt in die Waffen-SS, von der Teilnahme am Frankreichfeldzug bis zum Einsatz vor Leningrad mit 98 Prozent Ausfällen in seiner Kompanie und den Rückzugskämpfen der SS-Brigade Charlemagne in Hinterpommern, im März 1945. 

Nur wer aus Landser-Heften an endlose Gefechtsberichte gewöhnt ist, dürfte bei der Lektüre nicht ermüden. Hingegen fällt der seit Monaten im Feuilleton avisierte dramatische Höhepunkt dieser Anklageschrift, die „Entlarvung“ von Jauß als „Kriegsverbrecher“, ohne sensationellen Knalleffekt aus. Denn ein individueller Tatbeitrag zu Zivilisten-erschießungen während eines kurzen Kampfeinsatzes im September 1943 in Kroatien, so räumt der spürbar enttäuschte Autor ein, sei nicht nachweisbar. 

Aber als Kompanieführer trage Jauß trotzdem „Mitverantwortung für die Verbrechen des Bataillons, dem seine Kompanie angehörte“. Und sowieso stemple ihn die neuere Rechtsprechung mit ihrer weiten Auslegung des objektiven Tatbestands, nach der ein unscharf gefaßtes „Mitwirken am Tatort“ bereits die „funktionelle Mittäterschaft“ begründe, zum Kriegsverbrecher. Wozu dann der ganze Aufwand einer positivistischen Materialschlacht, wenn Jauß, dessen SS-Zugehörigkeit spätestens in den achtziger Jahren ein offenes Geheimnis war, juristisch ohnehin als Kriegsverbrecher gilt?

Insgesamt bietet diese Arbeit also nichts, was man nicht von den Scherbengerichten über Heidegger et al. zum Überdruß kennen würde: den moralinsauren Vatermördersound der Nachgeborenen, die Litanei von der „doppelten Schuld“, der des „Täters“ und des „Verdrängers“, die primitive zeithistorische Schwarzweißmalerei bei oftmals penibler Aktenauswertung, sowie, als Antrieb nie zu unterschätzen, der ölige Ehrgeiz derer, die hoffen, sich mit solchen Elaboraten ein Karrierekatapult zu basteln.

Eine zentrale Rolle spielt hier überdies ein Motiv, das den Werken seiner Vorgänger ebenfalls immanent ist, aber dort selten ähnlich klar heraussticht. Denn Westemeier zielt auf Jauß, will aber die „Werte der SS“, die „Ideale und Tugenden des NS-Staates“ treffen, weil sie, wie er suggeriert, bis heute fortgelten. Damit bewegt er sich in etwa auf der Linie von Oskar Lafontaines Polemik gegen den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, die „Sekundärtugenden“ wie Fleiß, Disziplin, Ordnungssinn für obsolet erklärte, weil mit ihnen auch ein KZ effizient zu betreiben sei. 

Der Politiker Schmidt, Oberleutnant der Wehrmacht, exakt drei Jahre älter als der 1921 geborene Jauß, repräsentiert wie der SS-Hauptsturmführer und Romanist den energiegeladenen, hyperaktiven Kugelblitz-Typus der Wiederaufbau- und Wirtschaftswunder-Generation. Soweit wie sich der demokratische Neubeginn im Rahmen der Universitäten vollzog, habe die aus Wehrmacht und Waffen-SS hervorgegangene Bildungselite ihren auf Bewährung durch Leistung gerichteten Maßstäben nicht abschwören müssen. Nur hätte der Korpsgeist der scientific community den der Kampftruppe ersetzt. Statt mit dem Eisernem Kreuz seien in einer „schneidig kompetitiven Wissenschaft“ die Besten fortan mit „akademischen Pfründen“ belohnt worden. Beim „Führerprinzip“ sei es jedenfalls geblieben. Und die „hervorstechendste Qualität“ der romanistischen Nachwuchsschmiede des Professors Jauß sei daher nun einmal ihre „Vermittlung militärischer Prinzipien“ gewesen. Nicht ganz erfolglos, wenn man Westemaier an das imponierende internationale Renommee der Konstanzer Rezeptionsästhetik erinnern darf. 

Es ist daher rätselhaft, warum der Potsdamer Gewaltexperte mit der Vita Jauß „Ideale und Tugenden“ diskreditieren möchte, die, modisch gesprochen, von jeher wissenschaftliche „Exzellenz“ verbürgen. Weil sie aus der „NS-Erfahrung übernommen“ sind, wie er raunt? Hätten dann womöglich auch die bis zur letzten Minute endsieggläubigen HJ-Enthusiasten Jürgen Habermas und Hans-Ulrich Wehler, schon habituell Leistungsfanatiker wie Jauß, „Werte der NS-Zeit in die Bundesrepublik tradiert“?

Wäre Westemeier fähig, seinen Tunnelblick vom Nationalsozialismus zu lösen, müßte ihm dämmern, wie haltlos sein reduktionistisches Gerede von den „SS-Werten“ ist. Bei keinem Geringeren als bei Martin Stratmann, dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, könnte er dann seit kurzem das Lob von deren Vorläuferin, der 1910 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nachlesen (Max-Planck-Forschung, 2/2016). Die sei ein „Hort der wissenschaftlichen Leistungselite“ Preußen-Deutschlands gewesen. Von deren Tatendrang profitiere die Bundesrepublik immer noch. 

Eine ganze Generation von Naturwissenschaftlern und Technikern legte damals das Fundament für Deutschlands starke Wirtschaft, die selbst katastrophale Kriege überstanden habe und die „uns bis heute Wohlstand sichert“. Mit Max Weber und Oswald Spengler ginge es dann noch sehr viel weiter hinter 1933 zurück, ins 16. Jahrhundert, zur calvinistischen Leistungsethik, zur Dynamik der „faustischen Seele“ der abendländischen Kultur, ohne die es wohl weder Aufklärung und Säkularisation, noch Kapitalismus und moderne Zivilisation gegeben hätte. Wir stehen auf den Schultern von Riesen, und die trugen selten Schwarz.

Jens Westemeier: Hans Robert Jauß. Jugend, Krieg und Internierung. Konstanz University Press, Konstanz 2016, gebunden, 367 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro