© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Neue deutsche Bescheidenheit
Eine Vortragssammlung zur Hirnforschung betont vor allem die Grenzen und kleinen Fortschritte des Faches
Ulrich Franke

Euphorisiert von der Aufbruchstimmung der Jahrtausendwende, prophezeiten Wissenschaftler im Juni 2000 der staunenden Weltöffentlichkeit den Eintritt in ein neues Zeitalter der Menschheit. Das Humangenom-Projekt war nach zehn Jahren abgeschlossen worden, das menschliche Erbgut in seiner Rohfassung entschlüsselt. Damit schien das Tor aufgestoßen zu bahnbrechenden Einsichten in biologische Prozesse wie etwa in molekulare Mechanismen der Krebsentstehung.

Warten auf die Einlösung der Heilsversprechen

2004 fühlten sich führende Neurowissenschaftler dadurch ermutigt, noch kühnere Heilsbotschaften zu verkünden. In ihrem inzwischen mehr berüchtigten als berühmten „Manifest“ trauten sie ihrer jungen „Leitwissenschaft“ zu, schon bald die Grundlagen degenerativer Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson besser zu verstehen und diese Leiden verhindern, zumindest ihnen aber effizientere Therapien entgegensetzen zu können.

Schizophrenie und Depressionen wären bald Medizingeschichte, wenn erst die Patienten mit den – dank Hirnforschung entwickelten – nebenwirkungsfreien Psychopharmaka versorgt würden. Darüber hinaus befeuerte das „Manifest“ Spekulationen über revolutionäre gesellschaftliche Konsequenzen der Hirnforschung: vom erleichterten schulischen Lernen bis zur Rettung fragiler Finanzmärkte durch Neuroökonomik.

Bis heute warten Kranke und ihre Angehörigen auf die Einlösung solcher Versprechen. Und sie werden noch lange warten. Nach den jüngsten Turbulenzen um das milliardenschwere Human Brain Project der EU (JF 15/16), welches das Gehirn samt Rückenmark und allen Nerven des menschlichen Körper in einem Supercomputer „nachbauen“ will, steht es um das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit einer ganzen Disziplin nicht gut. Haben doch „solche entlarvenden Überreizungen und Grenzüberschreitungen“, so beklagen die Herausgeber einer Vortragssammlung über Erfolge, Möglichkeiten und Grenzen der Hirnforschung, deren Seriosität in der Öffentlichkeit leider „ins Zwielicht gerückt“.

Nicht zuletzt um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, organisierten die FAZ und die Hertie-Stiftung 2015 eine Vortragreihe unter dem Titel „Hirnforschung – was kannst du?“, deren Referate Joachim Müller-Jung, der FAZ-Wissenschaftsredakteur, und der Neurophysiologe Michael Madeja nun in Buchform vorlegen. Was alle Beiträge verbindet, ist die sich vom „Neuro-Mystizismus“ der Vergangenheit abwendende ostentative Bescheidenheit.

Auch der als Propagandist des „Neuromarketing“ schon in, wie es Kollegen bemäkeln, Grauzonen seiner Wissenschaft operierende Bremer Hirnforscher Gerhard Roth, ein Unterzeichner des „Manifests“ von 2004, konzentriert sich auf die ihn seit Jahren umtreibende Frage, wie im Gehirn im Wechselspiel zwischen Genetik-Epigenetik und Umwelt das „Seelische“ entsteht (JF 4/15).

In ihrer neuen Bescheidenheit profilieren die knapp zwei Dutzend Beiträger, das Gros renommierte Hirnforscher, flankiert von wenigen Psychologen, Soziologen und Philosophen, daher in erster Linie die „Grenzen“ des Faches. Es ist ein gelernter Philosoph, der 3sat-Kulturredakteur Gert Scobel, der allerdings auf Studienerfahrung am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried pochen kann, der die sechs wichtigsten Wunschobjekte der selbsternannten „Leitwissenschaft“ resümiert:

? 1. Die Strukturen, die Dynamik und die genauen neurophysiologischen Grundlagen der Interaktion der Gehirnaktivitäten vermochte sie bisher nicht in einer einheitlichen Theorie zu integrieren. 

? 2. Völlig ungelöst sind die „Qualia“, das Problem des subjektiven Erlebnisses neuronaler Zustände. Das läuft auf das Rätsel aller Rätsel hinaus: wie entsteht aus einer Ansammlung von Nervenzellen Bewußtsein, wie aus elektrochemischen Prozessen „Geist“?

? 3. Wie steht es um die Validität von Aussagen, die aus Experimenten von einer oft „erstaunlich geringen Anzahl von Probanden“ gewonnen werden? 

? 4. Ist der zum Determinismus verführende Kausalitätsbegriff in Gehirnmodellen noch verwendbar?

? 5. Sollten sich die Neurowissenschaften, angesichts der Tatsache, daß sich die Menge der in Deutschland verschriebenen Antidepressiva sich seit 2006 verdoppelt hat, bei der Allianz mit der medikamentösen Therapie psychischer Krankheiten nicht größere Zurückhaltung auferlegen? Und schließlich sollten

? 6. Naturwissenschaften bei der Analyse des Mentalen erwägen, ob es dafür unbedingt eine „vollständig physikalisch-physische Erklärung geben muß“?Trotz solcher vorsichtig-skeptischen Grundierung, kommt bei den beteiligten Hirnforschern keineswegs Verzagtheit auf. Man freut sich stattdessen über solide Erkenntnisgewinne im engeren Rahmen, die man in der Summe, auch angesichts einer kaum 150 Jahre alten Fachgeschichte, durchaus „grandios“ nennen dürfe, wie der Tübinger Neurophysiologe Johannes Dichgans betont.

Er präsentiert dazu gleich einen Musterkatalog diagnostischer und therapeutischer Fortschritte. So habe man in der Parkinson-Forschung seit 1860 entscheidende Besserungen der Krankheit erreicht. Als Markstein müsse die 1960 begonnene Behandlung mit Neurotransmittern gesehen werden. Der genaueren Kenntnis der Verschaltung im Netzwerk der extrapyramidalen Motorik verdanke man seit 1991 die Methode der tiefen Hirnstimulation.

Lebensgeschichtliche Risikofaktoren

Es fehle heute „nur“ noch der entscheidende Schritt: die Erkenntnis der Ursachen. Genveränderungen scheinen dafür nicht in Betracht zu kommen. Aussichtsreich sind lebensgeschichtliche Risikofaktoren, etwa traumatisierende Verlusterfahrungen, der Tod eines geliebten Menschen. Faktoren, „von denen wir bislang nichts wissen“. 

Etwas mehr wisse man lediglich vom Hauptrisikofaktor degenerativer Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer: dem Alter. Bei Alzheimer wisse man seit Jahren immerhin, daß die systemspezifische Degeneration der neuronalen Systeme Jahrzehnte vor der klinischen Manifestation beginne. Dies dürfte zukünftig Forschungen zur Früherkennung und zur Prävention des Zelluntergangs inspirieren. Wie seine Kollegen gibt Dichgans hier einen Einblick in den Forschungsalltag, der längst nicht mehr von visionären Heilsbotschaften, sondern vom Bohren harter Bretter bestimmt ist. Wer daran Interesse hat, könnte sich eine verständlichere Einführung in die Thematik nicht wünschen als diesen Sammelband. 

Max-Planck-Institut für Neurobiologie (MPIN):  www.neuro.mpg.de

Human Brain Project (HBP) der EU:  www.humanbrainproject.eu

Deutsche Alzheimer-Gesellschaft:  www.deutsche-alzheimer.de