© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Ausbeutung von Eltern durch die Transfersysteme
Die Kinderfeinde
Konrad Adam

Das Grundgesetz ist eindeutig. Es hat Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates gestellt – aber daraus ist nichts geworden, da die Verfassung verachtet wird. Ehe und Familie, vom Grundgesetz als gleichwertig betrachtet, sind auseinandergebrochen, die Zahl der kinderlosen Ehen steigt. Der besondere Schutz ist nichts Besonderes mehr, nachdem er auf solche Verbindungen ausgeweitet worden ist, die aus dem natürlichsten von allen Gründen, der Neigung zum eigenen Geschlecht, Kinder zwar adoptieren, aber nicht haben, nicht in die Welt setzen können. Statt der Familie Schutz zu gewähren, tut die staatliche Gemeinschaft alles Mögliche, ihr diesen Schutz zu entziehen, sie lächerlich zu machen und zu ruinieren.

Die Folgen sind danach. Mit einer Geburtenrate von 1,47 Kindern je Frau belegt Deutschland im internationalen Vergleich seit Jahr und Tag einen der letzten Plätze – ganz im Gegensatz zu unseren französischen Nachbarn, wo die Zahl der Kinder je Frau mit 1,9 deutlich höher liegt. Die Franzosen wissen, daß die Zukunft ein Gesicht hat und daß dieses Gesicht jung aussieht, nicht alt. Deswegen investieren sie, anders als wir, in die Jugend. Sie haben es so eingerichtet, daß eine fünfköpfige Familie bei mittlerem Einkommen von Steuern und Abgaben weitgehend frei ist. Denn in Frankreich wird das Familieneinkommen nicht durch zwei, sondern durch die Gesamtzahl der im Haushalt zu versorgenden Personen geteilt. Familiensplitting statt Ehegattensplitting nennt man das – in Deutschland verlangt und versprochen, nur nie gewährt.

Das Unglück begann vor 60 Jahren, mit der zu Unrecht „groß“ genannten Rentenreform. Zu Unrecht deshalb, weil von den beiden Phasen, in denen der Mensch auf Zuwendung und Hilfe angewiesen ist, nur die eine, das hohe Alter kollektiviert wurde, die andere, die Kindheit und die frühe Jugend, aber der Privatvorsorge überlassen blieb. „Kinder kriegen die Leute sowieso“ soll Adenauer gesagt haben, als er die ursprünglich geplante Kinderkasse als Gegenstück zur Rentenkasse strich. Danach war von dem Werk nur noch die Hälfte übrig; und das hatte Folgen.

Sie zeigten sich schon bald. In den zehn Jahren zwischen 1965 und 1975 brach die Geburtenzahl in Deutschland drastisch ein, sie fiel um fast die Hälfte ihres langjährigen Durchschnitts, von knapp 1,2 Millionen auf rund 650.000, ohne sich von diesem Rückschlag jemals zu erholen. Hatte die Pille den Frauen die Möglichkeit verschafft, die Zahl der Kinder zuverlässig zu regulieren, so hatte Adenauer mit seiner halben Reform den Verzicht auf Kinder lohnend gemacht. Von jetzt an galt der böse Spruch: In Deutschland lebt von Kindern gut, wer keine hat.

Er gilt bis heute. Was früher Segen, Kindersegen hieß, ist zum schlechten Geschäft geworden, das man in der Gewißheit, im Alter von Kindern versorgt zu werden, für die man selbst nichts getan hat, besser vermeidet. „Legt man die Maßstäbe eines sonst überall in den menschlichen Ordnungen als angemessen akzeptierten Vernunftdenkens und rationalen Abwägens der ökonomischen Gegebenheiten an“, hieß es im „Handbuch des Verfassungsrechts“ schon bald nach Adenauers verhängnisvollem Eingriff, „so ist eigentlich kaum zu verstehen, daß sich überhaupt noch wenigstens einige Eltern bereitfinden, die gesellschaftliche Aufgabe ‘Geburt, Unterhalt und Erziehung mehrerer Kinder’ quasi gratis zum Nutzen ihrer Mitbürger zu leisten.“

Wenn die Rentenversicherung von den Jungen verlangt, den Alten Leistungen zu bezahlen, auf die sie selbst keinen Anspruch mehr haben, lädt sie förmlich dazu ein, dem Rentenkäfig zu entkommen. Schlechte Geschäfte macht schließlich keiner gern.

Zu den wenigen gehörte Rosa Rees, Mutter von neun Kindern. Sie hatte ihre „gesellschaftliche Aufgabe“ offenbar gut gemacht, denn alle Kinder waren im Beruf erfolgreich – so erfolgreich, daß ihnen Monat für Monat mehr als 8.000 Mark an Zwangsbeiträgen für die Rentenversicherung abgenommen wurden. Von diesem gesellschaftlichen Reichtum bekam die Mutter, Urheberin des Erfolgs, aber nur einen lächerlichen Bruchteil ab. Sie war so leichtfertig – oder so verantwortlich – gewesen, Geburt, Unterhalt und Erziehung ihrer Kinder ernst zu nehmen und hatte deshalb nur vorübergehend Lohnarbeit verrichten können. Dafür wurden ihr im Alter gerade einmal 346,70 Mark monatlich zugebilligt – der Rest ging an Leute, die den Witz des Systems verstanden und auf Kinder verzichtet hatten.

„Das darf doch nicht wahr sein!“ empörte sich Roman Herzog, damals Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Es war aber wahr, und es ist bis heute wahr geblieben. Alle Versuche, die massive Umverteilung von Kinderreich zu Kinderlos und Kinderarm auch nur vorsichtig zu korrigieren, sind am Widerstand der Besitzstandswahrer gescheitert. Als deren oberster Vertreter ist Norbert Blüm dem Ansinnen, den Grundsatz der Belastung nach Leistungsfähigkeit auch auf die Familie anzuwenden, konsequent  entgegengetreten. Die Rente, so seine ewig wiederholte Litanei, sei beitragsbezogen und leistungsgerecht – was auf die schwer erträgliche Behauptung hinauslief, daß Mütter zur Rentenversicherung keinen Beitrag leisten und keine Leistung erbringen, die mit mehr zu belohnen wäre als einem Hungerlohn im Alter.

Thilo Sarrazin wußte schon, warum er seinem Bestseller den Titel gab: „Deutschland schafft sich ab“. Es schafft sich ab im Wege einer Transferausbeutung, die den Jungen nimmt, um den Alten zu geben. Sämtliche Zweige der staatlich administrierten Versicherungsindustrie arbeiten nach diesem Grundsatz. Bei dem mit Abstand größten Brocken, der Rentenversicherung, liegt das auf der Hand. Seitdem sie im Umlageverfahren betrieben wird, bildet sie keine Rücklagen mehr, ist also darauf angewiesen, heute das einzunehmen, was sie morgen ausgeben will. Sie lebt von der Hand in den Mund – und ruiniert damit die Zukunft, die sie doch unentwegt verspricht.

Jeder Sportverein wirbt um Nachwuchs, denn Nachwuchs bedeutet Zukunft; nur der bei weitem größte Verein im Lande, die Rentenversicherung, glaubt darauf verzichten zu können. Sie tut sogar das Gegenteil, denn wenn sie von den Jungen verlangt, den Alten Leistungen zu bezahlen, auf die sie selbst keinen Anspruch mehr haben, lädt sie doch förmlich dazu ein, dem Rentenkäfig zu entkommen. Schlechte Geschäfte macht schließlich keiner gern – und die Rentenversicherung ist das mit Abstand schlechteste Geschäft, das unsereiner machen kann.

Die gesetzliche Krankenversicherung arbeitet nach demselben Prinzip, der Umverteilung von Jung zu Alt. Jeder Statistiker weiß, daß die letzten drei oder vier Lebensmonate für die Versicherung genauso teuer sind wie die gesamte Lebenszeit davor; weshalb Versicherungsmathematiker Kinder als gute, Alte als schlechte Risiken bezeichnen. Wer diesen kühlen Rechnern mit der kostenlosen Mitversicherung von Kindern kommt, der wird von ihnen ausgelacht: zu Recht. Tatsächlich verrät er ja auch nur, daß er vom Rechnen keine Ahnung hat. Realistisch betrachtet handelt es sich bei der kostenlosen Mitversicherung um eines der vielen Täuschungsmanöver, in denen sich die Sozialpolitiker der Altparteien so gut auskennen. Sie wissen: wenn es ernst wird, muß man lügen – und was wäre ernster zu nehmen als die Sozialpolitik?

Das letzte Werk dieser Sozialingenieure, die Pflegeversicherung, ist auch ihr schäbigstes. Die Ungerechtigkeit war hier so offensichtlich, daß sie zum ersten Mal Widerspruch provozierte, von höchster Stelle sogar. Das Bundesverfassungsgericht wollte die systematische Benachteiligung der Familie nicht länger hinnehmen und verlangte Änderungen. Die Richter monierten, daß Ungleiches gleich behandelt werde, wenn Eltern denselben Beitrag zahlen müßten wie Kinderlose. Tatsächlich leisten Eltern ja gleich doppelt, einmal in Form ihres monatlichen Zwangsbeitrags, dann aber noch einmal durch ihre Kinder, die ja das Deckungskapital des ganzen Unternehmens sind. Ohne Kinder, die Beitragszahler von morgen, würde der riesige Bau der staatlich reglementierten Versicherungsindustrie wie ein Kartenhaus zusammenfallen.

Die Formel „Jung sorgt für Alt“ ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze heißt: Jung sorgt für Alt, nachdem und insoweit Alt zuvor für Jung gesorgt hat. Nur in dieser Geben und Nehmen über die Lebenszeit hin ausgleichenden Gestalt ist der Generationenvertrag gerecht.

Deswegen verlangte das Gericht eine Beitragsermäßigung für Eltern – ein Wunsch, dem unsere Parteipolitiker, selbst vielfach kinderlos und deshalb Nutznießer des Systems, nur zähneknirschend nachgekommen sind. Die Richter hatten ja verlangt, sämtliche Zweige des Zwangsversicherungssystems unter dem Gesichtspunkt der Beitragsgerechtigkeit zu überprüfen und, falls erforderlich, zu korrigieren. Die doppelt belasteten Eltern sollten nicht nur bei der Pflege-, sondern auch in der Kranken- und der Rentenversicherung bessergestellt werden als Kinderlose und Kinderarme. Der Generationenvertrag verlange nach Gerechtigkeit, meinten die Richter, nur dann könne er halten.

Er hält schon längst nicht mehr. Durch ihre einseitige Begünstigung des Alters hat sich die Bevölkerungsstruktur aus der vertrauten Form der Pyramide in einen Pilz mit schmalem Fuß und breiter Krempe verwandelt. Sozialpolitisch läuft das auf die Zumutung hinaus, von immer weniger Kindern immer mehr Geld und Kraft und Zeit für die Versorgung von immer mehr alten Leuten zu verlangen – ganz Kühne erwarten sogar mehr Liebe. Die wird es allerdings nicht geben. Die Liebe ist an die Person gebunden, setzt Nähe, Zuneigung und Intimität voraus. Für Menschen, die uns vertraut sind, werden wir sie aufbringen – gegenüber Vereinsmitgliedern, mit denen uns nicht mehr verbindet als eine Versicherungsnummer, aber nicht.

Das vierte Gebot, auf das sich unsere Sozialapostel so gern berufen, erwähnt Vater und Mutter als diejenigen, die das Kind lieben und ehren soll; über die vielen, die, aus welchen Gründen auch immer, ohne Kinder durchs Leben gegangen sind, sagt die Bibel nichts. Wir verstoßen gegen kein weltliches und kein kirchliches Gebot, wenn wir denen, die bei der Leistung gespart haben, die Gegenleistung verweigern oder kürzen. Wenn Norbert Blüm die intergenerative Solidarität auf die Formel „Jung sorgt für Alt“ verkürzt, ist das doch nur die halbe Wahrheit. Die ganz heißt: Jung sorgt für Alt, nachdem und insoweit Alt zuvor für Jung gesorgt hat. Nur in dieser, das Geben und das Nehmen über die gesamte Lebenszeit hin ausgleichenden Gestalt ist der Generationenvertrag gerecht. Und nur, wenn er gerecht ist, ist er haltbar.

Im Kampf mit den Interessenvertretern hat die Gerechtigkeit aber einen schweren, fast aussichtslosen Stand. Wer Schweine mästet, sei ein nützliches, wer Kinder großzieht, ein unnützes Mitglied der Gesellschaft, hat der große Ökonom Friedrich List einmal gespottet. Das war ironisch gemeint, ist von unseren Sozialpolitikern aber blutig ernst genommen worden. Unter ihren Händen ist Deutschland, eines der reichsten Länder der Welt, ein armes, ein kinder- und zukunftsarmes Land geworden. Auf diese Zukunft angesprochen, reagierte die frühere Familienministerin Renate Schmidt mit der Bemerkung, ob die Deutschen ausstürben oder nicht, sei ihr zunächst einmal „wurscht“.

Die Grünen haben sie beim Wort genommen und ziehen unter der Parole „Deutschland verrecke!“ oder „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ durch die Straßen. Anderswo würden solche Leute ausgelacht, in Deutschland sitzen sie im Bundestag.





Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Publizist, war Feuilletonredakteur der FAZ und bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Adam gründete die Alternative für Deutschland mit und war bis Juli 2015 einer von drei Bundessprechern.