© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Der Surfer wittert das wilde Meer
Realsatirischer Roman, ernsthafter Essay: Die zwei Seiten des Philosophen Peter Sloterdijk
Günter Zehm

Einst verkündete der damals noch junge Peter Sloterdijk (heute 69), er werde künftig sowohl bei seiner Arbeit als angestellter Philosoph wie auch bei seinen freien schriftstellerischen Erkundungen nur noch „surfen“. Er habe endgültig genug von den donnernden Kanzelankündigungen realitätsblinder Großsystematiker. Es bringe nämlich überhaupt nichts, sich auf einen Felsen zu stellen und gegen das Meer zu predigen. Vielmehr komme es darauf an, sich von Werk zu Werk jeweils „an einer geeigneten Stelle in die Bewegung des Elements einzulassen“.

Zur surfenden Praxis schöpferischen Nachdenkens und Schreibens, dozierte Sloterdijk damals, gehöre „ein Bewußtsein von positivem Alleinsein“. Man könne nicht zusammen mit einem anderen auf einer Welle reiten. „Er kann sich nicht mit deiner Nase schneuzen – schon gar nicht mit einer Kollektivnase (…) Alleinstehen können heißt lernen, ein genuines Medium von Unternehmungen zu werden.“

Leider ging der junge Surfmeister nicht in die Einzelheiten. Sich dem Element in mimetisch-eleganter Weise einschmiegen und dabei allein bleiben, das ist zwar schon eine ganze Menge, schöpft den schönen Vergleich aber bei weitem nicht aus. Viele Fragen bleiben offen, zum Beispiel: Wo soll der wirklich gute Schriftsteller surfen, auf den langen, flachen Wellen oder auf den kurzen, hohen?  Soll er so lange wie möglich stehen bleiben wollen oder die Chance zu einem tollen Kapriolentanz auf dem Brett ausnutzen, auch auf die Gefahr hin, schneller umzukippen? 

Über dreißig Jahre sind diese Ankündigungen nun her, und man kann ihren Karat im Vergleich mit Sloterdijks seitherigem Opus wohl einigermaßen gerecht einschätzen. Die Bilanz ist nicht schlecht. Balancieren auf langen Wellen und tolle Kapriolen auf kurzen halten sich etwa die Waage, man spürt, wie der langjährige Rektor der staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe so manches Mal auf seinen Beamtenstatus Rücksicht nahm und sich tatsächlich mittels einer Art Kollektivnase schneuzte, und zwar einer verstopften und unansehnlichen, die gar nicht richtig riechen konnte. 

Immer aber erfreut die Eleganz, mit der solches Balancieren geschieht. Man hört stets: Da tönt keine Kollektivnase, sondern ein literarisches Naturtalent absolviert eine Pflichtkür und wartet nur darauf, mit eigenen Organen in das wilde Meer hinauszuwittern und darüber ein ganz und gar eigenes Lied anzustimmen. Seitdem Sloterdijk als Emeritus von akademischen Zwängen befreit ist, wird das besonders deutlich. Der erzählerische Duktus in den Werken nimmt zu, strenge Gelehrsamkeit verwandelt sich in freundliche, wenn auch oft voll-ironische Weltweisheit. 

Die Produktionen der diesjährigen Saison legen davon Zeugnis ab; es sind dies in erster Linie der Roman „Das Schelling-Projekt“ (Suhrkamp) und der Essay „Glaube, Fegefeuer des Zweifels“ über einen „Protestantismus der leiseren Töne“, erschienen Anfang Oktober in der Neuen Zürcher Zeitung. Beide Stücke können in Stil und Arrangement nicht verschiedener sein – und gerade das eint sie in Hinblick auf ihren Autor und dessen derzeitige Seelenlage.

 Auf der einen Seite, im Roman, abgrundtiefer Sarkasmus, äußerst belustigende Generalattacke auf den gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb: auf der anderen, im Essay, konsequent durchgehaltene Ernsthaftigkeit, kaum verwegene Wortspiele, kaum typische Neologismen à la Sloterdijk, dafür faktisch auf jeder Seite bedachtsames Abwägen sich scheinbar ausschließender Positionen. Man sollte am besten zuerst den Essay und erst danach den Roman lesen, so wie in der Antike zuerst die Tragödie und dann das unernste, alles durch den Kakao ziehende Satyrspiel abrollte.

Der Roman erschien freilich zuerst und zog die Aufmerksamkeit auf sich. Er handelt von fünf Alt-68ern, zwei Frauen und drei Männern einschließlich Sloterdijks Alter ego „Peer“, die alle ein hübsches Pöstchen im akademischen Betrieb erlangt haben und nun gemeinsam erforschen wollen, ob beim Sexualverkehr der weibliche oder der männliche Orgasmus größer sei und was beim weiblichen Orgasmus überhaupt passiere. Als erstes klopfen sie bei einer staatlichen Institution zur Wissenschaftsförderung an, um ordentlich Geld für ihr Projekt lockerzumachen. Aber ihr Antrag wird abgelehnt.

Darüber entsteht bei den fünf Protagonisten eine lange Diskussion, welche in Form von E-Mails abrollt, die man sich gegenseitig zusendet. Der Text ist aufgezogen wie ein Briefroman aus dem 18. Jahrhundert, etwa von Richardson oder Choderlos de Laclos, nur daß eben statt Briefen E-Mails verschickt werden, wobei „Wissenschaftliches“ und höchst Privates, Intimes, bunt durcheinanderpurzeln. Das Ganze ist, wie gesagt, recht amüsant, allerdings getrübt von der Einsicht, daß es sich um eine reine „Realsatire“ handelt. So, wie Sloterdijk es darstellt, genau so geht es heute tatsächlich im sogenannten intellektuellen Leben zu.

Natürlich kommt nichts weiter dabei heraus als ziemlich unappetitliches Geschwätz. Das Thema „Weiblicher Orgasmus“ wird total verfehlt.  Sloterdijk demonstriert das überdeutlich, indem er am Ende seines Buches an den mythischen blinden Seher Teiresias aus der Antike erinnert, der zunächst Priester des Zeus war, dann in eine Frau verwandelt und Priesterin der Hera wurde und den deshalb seiner Kompetenz wegen beide Hauptgötter eines Tages befragten, welches Geschlecht, Mann oder Frau, in der geschlechtlichen Liebe mehr Lust empfinde.

Zeus hatte sich vorher für die Frauen, Hera für die Männer entschieden. Als Teiresias Zeus’ Meinung unterstützte und offenbarte, als Frau neunmal soviel Lust wie als Mann empfunden zu haben, ließ ihn die wütende Hera erblinden, weil er den Männern das Geheimnis der Frauen preisgegeben hatte. Will sagen: Themen wie das, was die beflissenen E-Mailer des Romans „erörtern“, sind durch Sprache gar nicht erhellbar, führen notwendig ins Geschwätz und werden mit Blindheit bestraft.

Schon der Titel des Romans, „Das Schelling-Projekt“, hat ja mit der verhandelten Sache, wie an einer Stelle ganz offen mitgeteilt wird, nicht das geringste zu tun, ist bloße Wichtigtuerei. Ganz anders bei dem Essay in der NZZ, wo der Titel, „Über einen Protestantimus der leiseren Töne“, genau das Thema benennt, über das es im Text dann geht. Und es ist ein wichtiges und außerordentlich aktuelles Thema. 

Viele Christen fürchten, daß zum Reformationsjubiläum 2017, zum Jahrestag des Wittenberger Thesenanschlags, vor allem (und nicht ohne böse Polemik) über die „laute“ Seite Martin Luthers räsoniert werden wird, über seine Kämpfernatur und Sprachgewalt, seine Attacken auf Katholiken, Juden und Muslime. Sloterdijk zeigt nun, daß diese „laute“ Seite des frühen Protestantismus von Anfang an von einer „leisen“ Seite begleitet war, und er tut das mit einer derartigen Akkuratesse und Delikatesse, daß man nur den Hut ziehen kann. 

Luthers Weg, so erfährt der Leser, war ein Weg in die Innerlichkeit, ins  „Alleinsein mit Gott“, doch es war dies keine verstockte, sich gewaltsam von der Welt abwendende Geste, sondern im Gegenteil der Schritt in die Welt hinaus, eine gewaltige Erweiterung der abendländischen Daseinsperspektive. Durch erlesene Beispiele vermag Slo-terdijk erstaunliche Parallelen zwischen Luther und den asiatischen Weisheitslehren aufzuzeigen, wie auch zwischen verschütteten, gleichwohl wichtigsten Dimensionen des abendländischen Geistes selbst, Hildegard von Bingen, Meister Eckart. Johannes Tauler.

Einzig durch die Betonung des „Alleinseins mit Gott“ im Protestantismus, so Peter Sloterdijk, sei der Aufschwung des scharf räsonierenden Geistes in Europa und besonders in Deutschland möglich geworden. „Zweihundertfünfzig Jahre nach dem Beginn der reformatorischen Turbulenz, vermittelt durch die Konzentrations- und Artikulationsarbeit von sechs oder sieben Generationen, war die deutsche Sprache, vor allem in den lutherisch reformierten Gebieten, zu einem Zustand herangereift, in dem die Ausdruckswunder der Klassik zwischen 1770 und 1830 möglich geworden waren.“ 

Übrigens sei auch die heute so wohlfeil gewordene kritische Zwischenruferei eine Folge der lutherischen Innerlichkeit gewesen: „Wenn Karl Marx, dreihundert Jahre nach dem Reformator, die These formulierte, alle Kritik habe mit der Kritik der Religion zu beginnen, läßt er den entscheidenden Sachverhalt unberücksichtigt: Mit Luther hatte die Selbstkritik der Religion ihre seit langem geforderte dynamis gewonnen, sofern sie die Energie war, die den Unterschied nicht nur aussprach, sondern auch vollzog. Seit der Luther-Effekt in der Welt ist, gibt es effektive Kritik, das heißt: die Unterscheidung einer Sache als solcher von ihrer Darstellung. Der Protestantismus entfaltet sich als Unterscheidung des Ideal-Christentums von seiner empirischen Gestalt.“

So also spricht der weise gewordene Meistersurfer Peter Sloterdijk im Jahre 2016. 

Peter Sloterdijk:Das Schelling-Projekt. Suhrkamp, Berlin 2016, gebunden, 251 Seiten, 24,95 Euro