© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Völlig falsche Vorstellungen
Entwicklungshilfe: Chancen und Risiken für die deutsche Wirtschaft in Afrika / Bald ein „Kontinent mit der weltweit höchsten Dynamik“?
Arnulf Rall

Die ersten beiden Oktoberwochen widmete sich Angela Merkel Afrika: Zuerst flog sie nach Mali, dann folgten Niger und Äthiopien. Im Anschluß daran wurden die Präsidenten des Tschad und von Nigeria in Berlin empfangen. Es ging dabei erneut um die Themen Migration, Terrorgefahr und Entwicklungshilfe, denn für die Menschen bedeute Frieden „nicht nur, daß kein Krieg ist, sondern daß sie auch bessere Chancen auf wirtschaftliche Entwicklung haben“, so die Kanzlerin nach ihrem Gespräch mit dem malischen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta. Doch verhindert mehr deutsches Engagement im Bildungssektor wirklich, daß Afrika weiterhin seine „besten Köpfe“ verliert?

Schwache Wirtschaft, hohes Bevölkerungswachstum

Die Zeiten von 6,5 Prozent Wirtschaftswachstum sind vorbei. Vor der Finanzkrise gab es explodierende Immobilienpreise in Lusaka, neue Mittelschichten in Nairobi oder Lagos, und der chinesische Investitionsboom bescherte den örtlichen Machthabern Sportarenen, Flugplätze und Luxushotels (JF 18/08). Die gesunkenen Öl- und Rohstoffpreise beendeten den Aufschwung. Das gesamtafrikanische Wachstum liegt derzeit bei 3,7 Prozent, entspricht also grob dem Bevölkerungszuwachs, der zwischen 2,6 Prozent (Sierra Leone) und 4,4 Prozent (Südsudan) schwankt. Es bringt also keine Wohlstandsgewinne.

Von 480 Millionen (1980) wuchs die Bevölkerung auf derzeit 1,2 Milliarden. UN-Schätzungen rechnen mit 2,5 Milliarden im Jahr 2050 – davon 400 Millionen allein in Nigeria. Laut Weltbank zählt das uranreiche Niger mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 359 Dollar zu den zehn ärmsten Ländern der Welt – doch aus den derzeit 20 Millionen Einwohnern könnten im Jahr 2100 theoretisch 210 Millionen geworden sein, sollte sich an der Zahl von sieben Kindern pro Frau nichts ändern. Der Auswanderungsdruck – und der Einwanderungsdruck nach Europa – wird also unweigerlich zunehmen.

Gleichzeitig schlummern in Afrika die ergiebigsten Vorkommen an Öl, Erdgas, Eisenerzen, Kupfer, Mangan, Platin oder Diamanten. Auf fruchtbaren Tropenböden wächst ein Großteil der Welternte von Kaffee, Kakao, Erdnüssen, Baumwolle oder Kautschuk. 60 Prozent des unbestellten Ackerlandes liegen auf dem Schwarzen Kontinent. Die Hektarerträge und die Lebensmittelproduktion sind rückläufig. Nur noch 1,3 Prozent der Weltwirtschaftsleistung wird in Afrika erbracht – bei einem Bevölkerungsanteil von 16,2 Prozent. Nur 2,2 Prozent der deutschen Einfuhren stammen aus Afrika, bei den Exporten gehen nur zwei Prozent in die 54 Staaten Afrikas. Der gesamte afrikanische Handelsumsatz mit Deutschland bewegt sich damit auf dem Niveau von Ungarn.

Entwicklungshilfeminister Gerd Müller spricht daher lieber vom „Chancenkontinent“. Mit den „richtigen wirtschaftspolitischen Impulsen und klugen Investitionen“ könne Afrika „zum Kontinent mit der weltweit höchsten Dynamik beim Wirtschaftswachstum werden“, so der CSU-Politiker. Doch selbst mit dem Haupthandelspartner Südafrika stagniert das Volumen bei 13,2 Milliarden Euro – einem Niveau zwischen Irland und Portugal. Immerhin gibt es 600 deutsche Firmen am Kap, darunter BMW, Daimler und VW, aber auch Mittelständler aus den Bereichen Elektrotechnik oder Maschinenbau. Insgesamt beschäftigen sie etwa 90.000 Einheimische.

Sambia verlor durch den Verfall der Kupfer- und Eisenerzpreise 70 Prozent der Staatseinnahmen. Ursächlich ist hierbei der Rückgang der Nachfrage aus China, des mittlerweile größten Außenhandelspartners des Kontinents. Mehr als 40 Prozent der Exporte von Angola, Sambia, Mauretanien, Gambia, Sierra Leone und des Kongo gehen als Rohstoffe ins Reich der Mitte. Im Gegenzug verkaufen eine Million Chinesen auf afrikanischen Straßenmärkten billige Plastikwaren und Textilien – zu Lasten der einheimischen Produktion.

600 Milliarden Dollar an Öleinnahmen „versickert“

Die erste Eisenbahn im heutigen Tansania, die 351 Kilometer lange Usambarabahn von der Hafenstadt Tanga nach Moschi am Kilimandscharo, wurde von der deutschen Kolonialverwaltung 1912 eingeweiht. Zwei Jahre später war die 1.252 Kilometer lange Ostafrikanische Zentralbahn fertig. Auch in Deutsch-Südwest, Kamerun und Togo wurden bis 1914 diverse Strecken fertiggestellt. Dank der 1904 eröffneten Schantung-Bahn konnte man von Tsingtau (via Sibirien) bis nach Berlin fahren – heute bauen die Chinesen selbst Autobahnen, fünf große Bahnlinien und 17 Häfen in Afrika. Dazu haben sie 3.000 chinesische Soldaten stationiert, teilweise durch UN-Mandate, aber oft auch allein zum Schutz ihrer gefährdeten Staatsangehörigen und Rohstoffinvestitionen im Sudan, im Kongo oder der Elfenbeinküste.

2008 wurde die deutsch-nigerianische Energiepartnerschaft besiegelt, doch seither hat der christlich-muslimische Bundesstaat – mit 182 Millionen Einwohnern, 514 Sprachen und 400 Völkern die zweitgrößte afrikanische Volkswirtschaft – 40 Prozent seiner Staatseinnahmen eingebüßt. Doch nicht nur der niedrige Ölpreis belastet Nigeria: seit dem Ende der britischen Herrschaft 1960 sind mindestens 600 Milliarden Dollar an Öleinnahmen „versickert“. Jeder neue Präsident verspricht nach Wahl oder Putsch angesichts leerer Kassen Aufklärung – letztlich bleibt alles beim alten.

Im erdbebengefährdeten Algier soll kommenden Monat die vier Milliarden Dollar teure Djamaâ el-Djazaïr eröffnet werden – eine Moschee für 120.000 Gläubige mit dem höchsten Minarett der Welt. Generalunternehmer des 2012 begonnenen Megaprojekts ist der chinesische Staatskonzern CSCEC. Deutsche, Franzosen und Kanadier sind für die Architektur verantwortlich. Daß Algerien 44 Prozent seiner Öleinnahmen verloren hat, tat dem Projekt keinen Abbruch.

Die korrupte Oberschicht Afrikas soll Vermögenswerte von etwa 700 Milliarden Dollar besitzen sowie 400 Milliarden im Ausland gebunkert haben. Bei Ex-Langzeitdiktatoren wie dem 1997 verstorbenen Mobutu Sese Seko (Zaïre) oder dem bis 2002 regierenden Daniel arap Moi in Kenia gibt es mit fünf bzw. drei Milliarden Dollar genauere Zahlen; bei den noch an der Macht befindlichen dürften sich die Zahlen in ähnlicher Größenordnung bewegen.

Neben Korruption, Nepotismus und Verschwendungssucht leistete sich das postkoloniale Afrika Dutzende verheerender Stammeskriege. Länder wie Liberia, Sierra Leone, die Elfenbeinküste, der Tschad, Zentralafrika, der Südsudan, Katanga, der Ostkongo und das Gebiet der Großen Seen wurden gründlich zerstört. Die Kriegskosten werden von Oxfam und Saferworld auf 284 Milliarden Dollar geschätzt.

Schätzungsweise 300 bis 500 Milliarden Euro hat Europa als Entwicklungshilfe nach Afrika gepumpt – doch das hat kein einziges Land entwickelt. Es gab jede Menge Modelle: die Industrialisierung, die „grüne Revolution“ auf dem Lande, die Handwerkerausbildung, Alphabetisierungskampagnen, Ausgleichszahlungen für Agrar- und Rohstoffpreisschwankungen, ländliche Kliniken, das Brunnenbohren und Frauenförderung.

Lukratives Geschäftsmodell Entwicklungshilfe

Das Ganze hat eine Armee von Entwicklungsberatern, Evaluierern und internationalen Beamten wohlhabend und einige Potentaten reich gemacht: Sie lassen sich für das Privileg, in ihrem Land oder Distrikt Gutes tun zu wollen, fürstlich bezahlen, denn sonst kann das schönste Projekt nicht durchgeführt werden. Daher hat die EU jetzt ein neues Instrument: die direkte Haushaltshilfe. Der zuständige Minister wisse am besten, was für sein Land gut ist. Der bedankt sich und baut dann Straßen und Krankenhäuser – oder auch nicht.

Der Vorteil für die Entwicklungshilfeverwaltung ist: Statt mühsam Projekte via Uno und NGO-Kanäle umsetzen zu lassen, die alle ihre Prozente abzwacken, ist das Geld unbürokratisch einfach weg. Und wenn der EU-Rechnungshof später nachfragt, kann auf die Kollegen in Äthiopien oder Simbabwe verwiesen werden. Die Korruption und Demotivation der afrikanischen Eliten fing nicht mit den Chinesen, sondern mit dem europäischen Gutmenschentum an.

Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft:  www.afrikaverein.de

Strategien des Entwicklungshilfeministeriums:  www.bmz.de