© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Ein gangbarer Kompromiß
Brexit-Debatte: Arbeitnehmerfreizügigkeit gewähren und zugleich Armutswanderung verhindern ist möglich
Dirk Meyer

Take back control! – das war der Slogan der Befürworter des EU-Austritts. Generell ging es gegen die Bevormundung aus Brüssel und um die Zurückgewinnung der Kontrolle über die eigenen Lebensverhältnisse (JF 29/16). Im Brennpunkt stand der Stopp der Migration aus der EU, vor allem von polnischen Arbeitskräften. Durch das Brexit-Votum stehen Großbritannien und die EU vor einem Dilemma: Kann es einen Austritt unter Beibehaltung der Binnenmarktfreiheiten bei Ausschluß der Arbeitnehmerfreizügigkeit geben?

Ein Blick auf die Anpassungsprozesse bei ökonomischen Ungleichgewichten weist die Richtung. Angenommen, es gibt einen besonderen Engpaß bei IT-Dienstleistungen. Grundsätzlich erfolgt eine Anpassung durch Preis- und Mengenänderung. Eine Preiserhöhung für IT-Dienste kann kurzfristig die Nachfrage zurückdrängen. Mittel- und langfristig wird es zu Angebotserhöhungen kommen: durch Lohnsteigerungen bei Programmierern, dem Import von Serviceleistungen aus dem Ausland und die Gründung ausländischer IT-Niederlassungen. Hinzu tritt der Zuzug von ausländischen Software-Spezialisten.

Damit wird deutlich: Die verschiedenen Mechanismen arbeiten parallel, ergänzen und ersetzen sich gegenseitig. Arbeitnehmerfreizügigkeit scheint insoweit verzichtbar. Dies ist aber nur ein Teil der Wahrheit, denn die einzelnen Anpassungsprozesse haben ihre Eigenarten, die ihren vollständigen Verzicht in Frage stellen. So ist die Lohnflexibilität nach unten wenig ausgeprägt. Bei Gütern wie Gesundheit oder Sicherheit bestehen nationale Normen, die den grenzüberschreitenden Handel erschweren.

Schließlich gibt es Güter wie Immobilien und ortsgebundene Produktionen wie Bauleistungen und personengebundene Dienstleistungen (Gesundheit, Pflege), bei denen kein Import möglich ist. Deshalb ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit zumindest in Teilbereichen nicht nur nützlich, sondern mehr oder weniger für die Versorgung notwendig. Auf den Brexit übersetzt heißt das: Die polnischen Handwerker sollen nicht nur günstiger, sondern auch zuverlässiger sein als ihre englischen Kollegen. Die EU-Konkurrenz fördert die kreative Zerstörung von „Arbeitnehmer-Pfründen“.

Auch deshalb sind im EU-Binnenmarkt die Grundfreiheiten allesamt zu gewährleisten: Freier Warenverkehr (Artikel 28 ff. AEU-Vertrag), Dienstleistungsfreiheit (56 ff.), Arbeitnehmerfreizügigkeit (45 ff.), Niederlassungsfreiheit (49 ff.) und freier Kapital- und Zahlungsverkehr (63 ff.). Die Diskussion zeigt auch, daß es keinen Grund gibt, die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Bedingung für die britische Forderung nach Freihandel zu verlangen – beide Freiheiten sind unabhängig voneinander per Saldo der Wohlfahrt förderlich.

Kopfsteuer als Ausgleich für die Wohlfahrtsgewinne?

Drei Gründe können eine Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit jedoch rechtfertigen. Migranten sind nicht nur Einsatzfaktoren, sondern Menschen mit Anspruch auf soziale und gesellschaftliche Teilhabe. Hierbei kann die Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Verhaltensweisen und Werten an gesellschaftliche Grenzen des aufnehmenden Mitgliedstaates stoßen. Die EU als Wertegemeinschaft (Artikel 2 EU-Vertrag) stünde dem entgegen.

Sodann wird die Ablehnung der Freizügigkeit mit Wohlfahrtsverlusten für die heimische Bevölkerung begründet, die teils durch Mietanstieg und Lohndruck negativ betroffen ist. Denkbar wäre ein Ausgleich durch die Wohlfahrtsgewinne der Zuwanderer, finanziert durch eine pauschale Kopfsteuer. Sie läßt sich mit der Inanspruchnahme der bereits bestehenden Infrastruktur begründen. Schließlich wirken die leistungslosen Sozialtransfers als Mindestlöhne mit entsprechenden Anreizen für die Zuwanderung aus ärmeren Mitgliedstaaten.

Zumindest der letzte Einwand gibt Hinweise, daß nicht alle Bedingungen einer EU-Sozialunion gleichzeitig erfüllbar sind: das Sozialstaatsprinzip in den reicheren Mitgliedstaaten, das Recht auf freie Wohnsitzwahl/Arbeitnehmerfreizügigkeit und das Prinzip der Nichtdiskriminierung mit sozialer Teilhabe für alle EU-Bürger im jeweiligen Land. Eine Bedingung muß deshalb beschränkt werden. Ansonsten droht langfristig eine Überforderung der national erfolgreichen Sozialsysteme.

In diesem Sinne bedeutet Freizügigkeit nicht zwingend voller Zugang zum Sozialsystem. So könnten die Leistungen erst bei Nachweis einer Mindestperiode der Beschäftigung bzw. Aufenthaltszeit im betroffenen Mitgliedstaat gewährt werden (JF 3/14). Schon 2001 haben der wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums und das Ifo-Institut ein zweistufiges Integrationsmodell vorgeschlagen, für das das EU-Recht (Artikel 18 AEUV) entsprechend geändert werden müßte. Ziel bleibt es, die Gestaltung der sozialen Sicherung weiterhin ohne Trittbrettfahrer aus ärmeren EU-Staaten in der Verantwortung der Mitgliedstaaten zu belassen und dabei die Freizügigkeit der Unionsbürger zu gewährleisten. Zuwandernde Erwerbstätige unterlägen der Steuer- und Abgabenpflicht des Gastlandes.

Im Gegenzug erhalten sie alle beitragsfinanzierten Sozialleistungen und Zugang zur öffentlichen Infrastruktur. Hinsichtlich aller steuerfinanzierten Sozialleistungen (Grundsicherung, Wohngeld, Elterngeld) gelten hingegen während einer Wartezeit von beispielsweise fünf Jahren Zugangsbeschränkungen. Parallel würden Ansprüche auf Leistungen des Heimatlandes gemäß dem Herkunftslandprinzip fortbestehen. Damit wäre ein gangbarer Kompromiß gefunden, und der Brexit hätte ein bedeutendes Reformelement für die EU angestoßen.





Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ordnungsökonomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Kommt der weiche oder harte Brexit?

Die Verhandlungsposition der EU brachte Ratspräsident Donald Tusk vorige Woche auf den Punkt: „Es ist nutzlos, über einen weichen Brexit zu spekulieren“, so der polnische Ex-Premier, „die einzige Alternative zu einem harten Brexit ist kein Brexit.“ Auch deutsche Politiker und Verbandschefs stützen die EU-Linie. Die deutsche Wirtschaft warnt aber, das Tischtuch vollkommen zu zerschneiden: Laut einer Umfrage des Industrie- und Handelskammertags (DIHK) möchte die große Mehrheit der Firmen, daß Großbritannien vollwertig im EU-Binnenmarkt verbleibt. Schließlich exportierte Deutschland 2015 Waren im Wert von 89,3 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich, seinen drittgrößten Absatzmarkt. Die Briten lieferten nur für 38,3 Milliarden Euro in die umgekehrte Richtung. Es gehe „nicht nur um 750.000 Arbeitsplätze in Deutschland, denn 2.500 deutsche Firmen sind in Großbritannien mit rund 400.000 Beschäftigten präsent, es geht um europäische Wertschöpfungsketten“, warnte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. (fis)