© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Zerplatzte Träume vom militärischen Sieg
Afghanistan: Selbst die Schutzmacht USA sucht das Gespräch mit den Taliban
Marc Zoellner

Fast wie Wunschdenken klang es, als John Kerry Anfang dieses Monats in einer Rede an die Taliban appellierte. „Es gibt einen Weg hin zu einem ehrenhaften Ende des Konflikts, den die Taliban begonnen haben“, verkündete der US-Außenminister wortgewaltig am Rande einer Brüsseler Konferenz zum Wiederaufbau des vom mittlerweile Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg schwer zerstörten Afghanistan. „Dieser Konflikt kann und wird nicht auf dem Schlachtfeld gewonnen werden.“ Eine politische Einigung, ausgehandelt mit der afghanischen Regierung, sei der einzige Weg, um jenen völligen Truppenabzug der internationalen Militärmächte zu erreichen.

15 Jahre nach Kriegsbeginn nur wenig erreicht

An einen militärischen Sieg gegen die Taliban glaubt in Washington schon längst niemand mehr. Gegenteilig sucht das Pentagon bereits seit geraumer Zeit händeringend nach einer Lösung, sich aus dem Krieg in Afghanistan zurückziehen zu können, ohne sein Gesicht zu verlieren. Ein Blick auf die aktuellen Karten des Schlachtfelds genügt, um hierfür Erklärungen zu finden.

Fünfzehn Jahre nach Kriegsbeginn propagieren die Taliban ihre bislang erfolgreichste Offensive: Mindestens 41 der 329 Distrikte des Landes wurden dabei komplett erobert; weitere 43 Distrikte gelten als stark umkämpft beziehungsweise kurz vor dem Fall. In Helmand, jener südafghanischen Provinz von der Größe Nordrhein-Westfalens und Hessens zusammen, belagern die Radikalislamisten seit mehreren Wochen die Hauptstadt Laschkar Gah. 

Der Rückzug der Kabuler Regierungstruppen aus dem Rest der Provinz, berichtete die Washington Post Mitte Oktober resigniert, „wurde von den US-Truppen begrüßt, da deren Luftunterstützung im südlichen Landesteil zunehmend schwierig wurde“. Mittlerweile, so die Washington Post weiter, beschränkten sich die anwesenden US-Soldaten lediglich auf die Sicherung landender Flugzeuge am Flughafen von Laschkar Gah.

Im Norden wiederum gelang den Taliban Mitte Oktober die Eroberung des Distrikts von Ghormach. Nach Kham Ab die zweite Region an der Grenze zum Nachbarstaat Turkmenistan, die sich seitdem in der Gewalt der paschtunischen Miliz befindet. Wie prekär sich die Sicherheitslage in den nördlichen Provinzen Afghanistans gestaltet, bewies zuletzt auch der Überfall von Taliban-Anhängern auf den afghanischen Vizepräsidenten, den General Abdul Raschid Dostum: Mit einem gepanzerten Konvoi auf dem Weg, um die Kampfhandlungen gegen die Aufständischen in Ghormach persönlich zu leiten, geriet Dostum in der benachbarten Provinz Faryab in einen Hinterhalt der Taliban. Zwei hochrangige Kommandeure wurden dabei von den Islamisten getötet, drei Panzer erobert. Dostum selbst gelang nur mit knapper Not die Flucht.

Finanzielles Desaster für westliche Geberländer 

Lediglich in Kunduz, dem ehemaligen Sitz der Bundeswehr in Afghanistan und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, scheint sich die Situation zu stabilisieren. Wie schon im Vorjahr, so hatten die Taliban auch in diesem Herbst zum Sturm auf die Stadt gerufen. Mehrere Tage dauerten die Gefechte mit ausländischen sowie Regierungstruppen an, bis sich die Milizionäre aus dem Zentrum der Metropole zurückzogen – vornehmlich, um deren Fronten in anderen Provinzen zu verstärken. Gleichwohl ist die Lage auch in der Provinz Kunduz kaum als optimistisch zu betrachten: Von den sieben Distrikten befinden sich drei fest unter Kontrolle der Taliban. Die anderen vier sind noch umkämpft.

Insbesondere droht der Afghanistankonflikt aber auch, sich zum finanziellen Desaster für die westliche Wertegemeinschaft zu entwickeln. „Ich kann mich nicht erinnern, daß in ein kleines Land mit rund 30 Millionen Einwohnern jemals so viel Geld gepumpt wurde – Schätzungen gehen bis zu einer Billion US-Dollar“, prangerte Reinhard Erös, Gründer der Kinderhilfe Afghanistan, kürzlich im „Heute-Journal“ das unkoordinierte Gießkannenprinzip der Geberländer an. „Das bedeutet: 15.000 Dollar pro Kopf, das halbe Lebenseinkommen eines „Durchschnitts-Afghanen“. Hinzu rechnen sich noch einmal Militärausgaben von rund 800 Milliarden US-Dollar allein auf US-amerikanischer Seite.

Gerade einmal 9.800 Soldaten halten die Vereinigten Staaten in Afghanistan noch stationiert. Innenpolitisch jedoch gerät Washington insbesondere zu den Präsidentschaftswahlen unter Druck, auch den Abzug dieser Truppen zu beschleunigen. Ein rasches Ende des Bürgerkriegs am Hindukusch ist auch dann jedoch noch lange nicht in Sicht. Denn mit den „Khorasan“-Milizen des Islamischen Staats meldete sich dieses Jahr ein finanzstarker sowie hoch motivierter neuer Akteur auf dem Schlachtfeld. Bis zu 7.000 seiner Anhänger, verkündete Vizepräsident Dostum Anfang Oktober, habe der IS für Afghanistan bereits mobilisieren können. Ihr Ziel: die Vernichtung der Taliban und der anschließende Sturz der Regierung in Kabul.