© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/16 / 14. Oktober 2016

Wenn selbst die Kraft zur Dekonstruktion fehlt
Genial und senil: Peter Konwitschny inszeniert in Nürnberg Mussorgskis Zarenstück „Boris Godunow“
Sebastian Hennig

Neben einigen phänomenalen Tondokumenten mit dem Leipziger Gewandhausorchester unter der Leitung von Franz Konwitschny wird der Name Konwitschny heute vor allem mit schrillen Inszenierungs-Platitüden in Verbindung gebracht. Als er 1962 zu früh auf einer Konzert-tournee in Belgrad verstarb, hinterließ er uns seinen Sohn Peter. Dieser Apfel war bemüht, so weit es nur irgend ging vom Stamm wegzurollen. Der 1901 im nordmährischen Fulnek geborene Vater verfügte über eine austriakische Musikantenseele. Von heute aus betrachtet gehört seine Einfallslosigkeit zum Gedeihlichsten, was der Musik passieren kann. Der 1945 geborene Sohn wollte dieser eleganten Schlichtheit mit seinen Inszenierungen stets absichtsvoll widersprechen. Wem es um die ästhetische Integrität des Werkes zu tun war, der vermied die dumm-pfiffigen Kommentare Konwitschnys, wo es nur ging. Aber der Regisseur hat inzwischen auch die Siebzig überschritten, und so können wir mit Mephistopheles sagen: „Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, Es gibt zuletzt doch noch e’ Wein.“ 

Diese Hoffnung konnte ins Staatstheater Nürnberg zu einer Neuinszenierung von Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ locken. Und tatsächlich waren einige abgeklärte Aromen bereits zu schmecken, wenn auch der Most insgesamt noch sehr rauschig bleibt. Die in Nürnberg aufgeführte Urfassung von Mussorgskys Hauptwerk ist in sieben Bilder unterteilt. In den ersten vier Bildern gärt Konwitschnys Federweißer, während in den letzten drei bereits ein süffiger Wein kredenzt wird. Es gibt da szenisch gute Einfälle, echte Erfindungen, welche die Handlung nicht durchkreuzen, sondern sehr gut unterstützen.

Zunächst aber wird die Huldigung des Zaren als ein Puppentheater mit dem Schutzmann und dem bösen Krokodil vorgeführt. Das verwahrloste und alkoholisierte Volk kauert zwischen Fernsehschirmen und Pappkartons. Es klappert mit den Wodkaflaschen unbekümmert über die prachtvoll musizierende Nürnberger Staatsphilharmonie hinweg.

Der Regisseur verkennt und verfehlt mit seiner schwerfälligen Hyperkritik an einer verflossenen Tyrannis die offensichtliche Tatsache, daß der Schöpfer des Werks in seiner Musik, den Worten und der Handlung die Zwiespältigkeit dieser Huldigungsszene einerseits längst dargestellt hat und andererseits noch darüber hinausgeht, indem er die Handelnden auch im Leben als Schauspieler ihrer zugewiesenen Rolle kennzeichnet.

Gitarristen werden vom Krokodil verschlungen

Mussorgsky liefert damit eine subtile Psychologie des Volkes. Konwitschny hat offenbar nicht einmal mehr die wilde Kraft zur Destruktion und verfängt sich völlig in albernen szenischen Tautologien. Der Lobpreis Gottes wird auf der Puppenbühne durch eine Trinität von Gitarristen vorgetragen, die einer nach dem anderen vom Krokodil verschlungen werden, vor dessen Erscheinen jedesmal eine helle Knabenstimme warnt.

Wenn zu Beginn des zweiten Bildes die Kirchenglocken tönen, halten sich alle ihre Suffköpfe mit den Händen fest, als hätten sie arges Schädelweh. Maschinengewehrsalven rattern durch den Preisgesang „Slawa, slawa!“ Zuletzt stürzt die Puppentheaterbühne mit elektrisch verstärktem Krach zusammen. Die windschiefe Ruine dient als Kneipe im vierten Bild, in der die Aufständischen Wein aus Karton saufen. Bis dahin bleibt der Abend schwunglos und uninspiriert, was zu gleichen Teilen an dieser einfallslosen Inszenierung wie an den mittelmäßigen Stimmen liegt. Das fünfte Bild gibt den Blick in die königlichen Gemächer. Alles funkelt hier von eitel Gold.

In die Musik krachen Pistolenschüsse

Der bulgarische Baß Nicolai Karnolsky gibt einen anrührenden Godunow. Er ist geschult an den großen Vorbildern Schaljapin und Petrow, ohne deren Majestät schon ganz erreichen zu können. Aber gemeinsam mit seinen Nürnberger Ensemble-Kollegen David Yim als Schuiski und Hans Kittelmann in der kleinen Rolle des Idioten verschafft er dem Opernabend gelungene Augenblicke. Die Erzählung des Schuiski im fünften Bild gehört mit zu den Höhepunkten des Abends. Das in sich schöne und stimmungsvolle sechste Bild wird durch zwanghafte Metaphorik vergewaltigt, und in die Musik krachen wiederum Pistolenschüsse. 

Als Peter Konwitschny 1999 an der Dresdner Semperoper die „Csárdásfürstin“ von Emmerich Kálmán in die Schützengräben des Weltkriegs verlegte, strich der Intendant Christoph Albrecht nach der Premiere zwei Szenen. In einem exemplarischen Gerichtsprozeß erwirkte der Regisseur die Anerkennung seiner Inszenierungsleistung als eigenständiges Kunstwerk samt den damit verbundenen Urheberrechten.

Daß für derartige Inszenierungskunststücke billig sein muß, was für die Opernwerke recht ist, darauf kam Konwitschny nicht. Wenn nun also die Bühnendarstellung derart zu einer eigenständigen Kunstform gerinnt, die von ihrem Anlaß wegstrebt, wäre es angebracht, den Regisseur einem Oberspielleiter unterzuordnen, der seine Einfälle wiederum bühnenmäßig und werkgerecht ordnet. Denn Konwitschny ist gelegentlich beinahe genial. Er läßt im Nürnberger „Boris Godunow“ die Polizisten und die Bojaren über eine Hüpfburg die Szene betreten. Wie sie bemüht sind, würdevoll auf dem schwankenden Grund herbeizuschreiten, das ist in seiner Verzögerung opernhaft gedacht und eine Bildmetapher, die mit der Musik und dem Sinn der Handlung nicht nur konform geht, sondern diesen unterstreicht und bereichert.

Solange der begabte Regisseur aber insgesamt sein Ziel verpeilt, ob gewollt oder ungewollt, gehört er unter heilsame Kuratel gestellt. Zunächst sollte ihm jede Geräuscherzeugung auf offener Bühne untersagt werden und dem Orchester unter der Leitung des Generalmusikdirektors Markus Bosch wieder die Oberhoheit über das Hörbare zurückgegeben werden. Sodann wäre im Werk dieses Greisen unter den „Enfant terribles“ der Opernszene der Ausfluß der Senilität vom Ausdruck des Genies zu trennen. Letzterem zuzurechnen war die Schlußszene in Nürnberg: Boris Godunow im Hawaii-Hemd, der Macht abhold, singt „Noch bin ich Zar. Hier ist euer Zar“ und steigt hinab in einen Graben. Die Saaltüren werden geöffnet, und aus dem Foyer schallt der Schlag von fünf Glocken und einem Gong herein.