© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/16 / 14. Oktober 2016

Mal ganz offen über Sex reden
Schulpolitik: In Hessen setzt ein CDU-Kultusminister die Ziele der Grünen um / Gesetzesnovelle beerdigt Hauptschule
Martin Voigt

Gekicher, rote Köpfe, verschämte Schulkinder. Sexualkunde tangierte bereits die Schamsphäre junger Menschen, als der Biologielehrer noch im Frontalunterricht nüchtern Wissen vermittelte. Sensibilität war jahrzehntelang das Gebot dieser Unterrichtsstunde. Im schwarz-grün regierten Hessen soll es nun offener und intimer zugehen. Der seit August gültige Lehrplan zur fächerübergreifenden Sexualerziehung an den allgemeinbildenden und beruflichen Schulen soll „sich nicht auf Wissensvermittlung“ beschränken. Anstelle von Sexualkunde ist daher auch von Sexualerziehung die Rede. Diese könne nur gelingen, „wenn Lehrkräfte sich als Aufklärende begreifen, die den Auftrag haben“, den Schülern auch die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ nahezubringen. 

Anzustreben sei ein Schulklima, in dem Schüler erleben, daß über Sexualität offen gesprochen werden kann. Dieser Schritt vom Lehrerpult mitten hinein in den schulkindlichen Stuhlkreis soll ein „offenes, diskriminierungsfreies und wertschätzendes Verständnis für die Verschiedenheit und Vielfalt der partnerschaftlichen Beziehungen, sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten“ gewährleisten.

Politischer Initiator des neuen Lehrplans sind die Grünen, die sich die Änderung des seit Oktober 2007 gültigen Lehrplans im Koalitionsvertrag mit der CDU ausbedungen hatten. Gegen den Widerstand des Landeselternbeirats setzte Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU) den neuen Lehrplan per Ministerentscheid in Kraft. Unterdessen wies Lorz jegliche Kritik zurück mit der Begründung, die Neufassung trage den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten Rechnung.

Unterstützung beim     „Coming-out“ anbieten

In der Altersgruppe der 6- bis 10jährigen sollen bereits gleichgeschlechtliche Partnerschaften verbindlich thematisiert werden. Menstruation, Ejakulation, erste Liebe und die Rolle der Frau und des Mannes „heute und früher“ sind Unterrichtsstoff für 10- bis 12jährige. Sie sollen außerdem lernen, diverse sexuelle Orientierungen und Identitäten voneinander zu unterscheiden. Den 13- bis 16jährigen wird Unterstützung „beim Comingout“ angeboten. Die Sexualerziehung sei „für alle Schülerinnen und Schüler verbindlich und nicht an die Zustimmung der Eltern gebunden“.

Geht es nach den katholischen Bischöfen in Hessen, sollte Eltern jedoch ein größeres Mitspracherecht bei der Zuteilung von Themen zu Altersgruppen eingeräumt werden, heißt es in einer Stellungnahme, die der JUNGEN FREIHEIT vorliegt. Wenn sich 10- bis 12jährige Kinder verbindlich mit „Hetero-, Bi-, Homo- und Transsexualität“ beschäftigten, wirke dies eher verunsichernd statt aufklärend. Problematisch sei es zudem, Akzeptanz als pädagogisches Ziel einzufordern, lautet ein wesentlicher Kritikpunkt des bischöflichen Schreibens. Der neue Fokus liege zu sehr auf dem „Ziel der Akzeptanz sexueller Vielfalt“, während das Familienmodell der Mehrheitsgesellschaft aus dem Blick gerate. Sorge bereitete den Bischöfen auch die schulische Begleitung beim Coming-out. Dies sei ein komplexes Geschehen, das in der Pubertät sehr ambivalent verlaufen könne und vertrautere Begleitung benötige als die einer Lehrkraft.

Der bereits eingeführte Lehrplan zur Sexualerziehung ist nicht die einzige Neuerung, die in Hessens Bildungspolitik ansteht. Die Landesregierung hat vergangene Woche auch ein neues Schulgesetz auf den Weg gebracht. Die Novelle soll ab dem Schuljahr 2017/18 in Kraft treten. Gemeinsam mit den bildungspolitischen Sprechern der Regierungsfraktionen, Armin Schwarz (CDU) und Mathias Wagner (Grüne), hat Lorz die neuen Inhalte vorgestellt. Ziel sei es, „die pädagogischen und organisatorischen Angebote im Schulbereich so zu gestalten, daß jedes Kind und jeder Jugendliche den optimalen Bildungsweg für sich wählen und finden kann“, sagte Lorz.

Das Prinzip der vielen Möglichkeiten gilt für alle Schularten: Gymnasien dürfen fortan nach eigenem Ermessen den verkürzten Bildungsgang G8 parallel zum nicht verkürzten Bildungsgang G9 anbieten. Und an integrierten Gesamtschulen kann künftig jeder seiner Wege gehen und trotzdem in seiner Klasse bleiben. Die Schüler werden nicht mehr wie bisher in Kurse aufgeteilt, die sich an ihren Fähigkeiten orientieren. Der Lehrer soll nun innerhalb einer Klasse „binnendifferenzieren“, also den individuellen Lernfortschritt der Schüler berücksichtigen. „Damit tragen wir dem Wunsch von Schulgemeinden und Eltern dort Rechnung, wo sie sich ein längeres gemeinsames Lernen wünschen“, sagte Minister Lorz.

Auch Förderschulen bekommen eine gesetzlich verankerte Alternative. Eltern behinderter Kinder sollen selbst entscheiden, ob sie die Förderschule oder den inklusiven Unterricht an Regelschulen bevorzugen. Entsprechende Lehrerstellen will das Land schaffen. Die Grünen wollten, daß behinderte Schüler generell in Regelschulen unterrichtet werden, konnten sich jedoch nicht durchsetzen.

Für Grundschüler soll künftig ein flächendeckendes Betreuungsangebot bis 17 Uhr bestehen, eigenständige Hauptschulen werden abgeschafft. Schwarz betonte, daß der Hauptschulabschluß nicht abgeschafft werde, sondern an verbundenen Haupt- und Realschulen, an Mittelstufenschulen sowie an integrierten Gesamtschulen erworben werden könne. „Der Hauptschulabschluß behält in einem facettenreichen System eine elementare Bedeutung“, sagte der Bildungsexperte der CDU. Auch in Sachen Kopftuch gibt sich der Gesetzgeber kulant: Das Tragen religiöser Kleidungsstücke ist gestattet, sofern es nicht den Schulfrieden stört.