© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Jede Epoche hat ihren Firlefanz
Freiumherschwimmende Aminosäure an emfindsamen Darmzotten: Von der pathologischen Fixierung auf korrekte Ernährung
Burkhard Voß

Ein satirischer Seitenhieb aus Timur Vermes’ Bestseller „Er ist wieder da“, wo dem scharfen bipolaren Blick des Protagonisten auch die Koch- und Ernährungsmanie der gegenwärtigen Epoche nicht entgangen ist: „Der Apparat sprang an ... Ich sah einen Koch, der Gemüse klein hackte ... Es mußte doch etwas Bedeutenderes stattfinden als dieser Koch! ... Kurz darauf kam auch noch eine Frau hinzu, die sich bewundernd mit dem Koch über sein Geschnipsel unterhielt ... Ich drückte die Nummer 2, und sofort verschwand der Koch, um sogleich einem anderen Koch Platz zu machen ... eine mindestens ebenso denkwürdige Amsel wie neben dem ersten Koch stand auch neben dem zweiten und bestaunte die Weisheiten dieses Rübezahl.“

Porreestange mit Ahnenpaß

Jede Epoche hat ihren Firlefanz. Etwas Bedeutenderes als Haferflocken eine ganze Nacht lang einzuweichen, bevor sie mit lactosephobischen und auch sonst hochsensitiven Darmzotten in Kontakt treten dürfen, gibt es nicht. Beim Anblick der Titel der neuen Kochbücher wie „Das vegane Familienkochbuch“, „Happy Cookbook“, „Kochen ist die beste Medizin“, 

„Ayurvedakochschule“ oder „Clean Eating“ kann einem nur noch schlecht werden. Wahrscheinlich die Folge eines unverarbeiteten Kindheitstraumas in den Siebzigern, wo unsereins wöchentlich gezwungen wurde, eine grüne Pampe namens Spinat in sich hineinzustopfen, natürlich mit dem Hinweis auf den hohen Eisengehalt („Ist gut fürs Blut“).

Grüne Korrektheitskost bekommt man heute auf allen Kanälen serviert. An apple a day keeps the doctor away – fragt sich nur, ob mit oder ohne Schale. Die nächste doppelblinde Kohortenstudie zu dieser alles entscheidenden Frage ist bestimmt schon in Vorbereitung. Bevor das Ergebnis steht, kann man ja noch andere Rohkostprodukte knabbern, beispielsweise eine Birne, fünf Mandeln oder zwei bis zweieinhalb Stück Trockenobst. Am Wochenende sollten Sie dann die Zwischenmahlzeiten weglassen, damit der Dünndarm wieder Ordnung schaffen kann – Stichwort freiumherschwimmende Aminosäure. Kohlenhydratmoleküle im schleimigen Darmmilieu? Da wird nichts draus im Ökokatechismus! Nach diesem soll Wurstessen ja schon das neue Rauchen sein und der tägliche Verzehr von mehr als 50 Gramm Wurst mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen einhergehen. Wahrscheinlich ist Wurst ein Fall für die Sondermülldeponie. „Jesus Maria, geht’s noch?“, würde Cindy aus Marzahn, die lipophile Horrorfigur aller vegan getunten Ökolandwirte mit grünen Latzhosen, ins Mikrofon prusten.

Zu einer Mutter, die sich auf der Jagd nach der besten Erziehungsmethode befand, soll ein genervter Neurowissenschaftler einmal gesagt haben: „Ziehen Sie ihr Kind nicht in einem Schrank auf, lassen Sie es nicht verhungern und schlagen Sie ihm nicht mit einer Bratpfanne auf den Kopf.“ Den veganen Jägern hätte er wohl geraten, den Ernährungsratgeber zum Altpapier zu geben, eine Currywurst zu bestellen und dazu lieber zwei statt einer Flasche Bier zu trinken.

Selbst Psychologen, die ihren Senf nach Abschaffung der Wurst zu Orangenstücken geben würden, wissen noch nicht genau, wie die neuen Ernährungspriester einzuordnen sind, welche Psycho­dynamik sie antreibt. Aber sie haben zumindest schon einen Namen für dieses bizarre Verhalten gefunden: Orthorexie, die pathologische Fixierung auf korrekte Ernährung. Die Anorektikerin ißt so wenig wie möglich, der Orthorektiker so gesund wie möglich. Eine Porreestange auf dem erstbesten Gemüsemarkt kaufen? Für den Orthorektiker unmöglich. Für ihn ist nicht nur die genaue Zusammensetzung nach Vitaminen, Ballast- und Mineralstoffen wichtig, sondern auch die exakte Herkunft. Der Ahnenpaß, das war einmal – der Stammbaum der Porreestange aber ist heute kaufentscheidend.

1887 schrieb Friedrich Nietzsche „Zur Genealogie der Moral“. In den fiebrigen Ausdünstungen einer politisch korrekten Ökodiktatur reicht es gerade noch für eine Genealogie der Gurke.