© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Denken heißt vergleichen!
Methodische Leerstellen auffüllen: Ein Sammelband bricht eine Lanze für den historischen Vergleich
Wolfgang Kaufmann

Der historische Vergleich gehört zu den altbekannten und zugleich wichtigsten Methoden der Geschichtswissenschaft. Er läuft stets auf die systematische Untersuchung zweier oder mehrerer Phänomene der Vergangenheit im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinaus, mit dem Ziel, zu allgemeinen Aussagen über Prozesse und Strukturen zu gelangen. Dabei genoß der Vergleich zunächst eine recht hohe Reputation, geriet dann aber im Verlaufe der achtziger Jahre zunehmend in die Kritik, weshalb der Berliner Sozialhistoriker Hartmut Kaelble schließlich vom „Aschenputtel der Geschichte“ sprach.

Die Ursache hierfür lag zunächst in der wachsenden methodischen Skepsis der Zunft. So wurde die Abhängigkeit der Auswahl der Vergleichsfälle von der Quellenlage bemängelt, die Befangenheit der Vergleichenden in nationalen Denkweisen gerügt, und auch die mehr oder weniger expliziten Annahmen über politische und gesellschaftliche „Normalität“, die in die Vergleiche einflossen, erregten Anstoß. Das war allerdings nicht das Hauptproblem – jedenfalls in Deutschland. Hier hieß es nämlich vor allem: „Wer vergleicht, relativiert!“ 

Insbesondere verdammten die Wächter über das „korrekte“ Geschichtsbild jedweden Versuch, den Holocaust mit anderen Genoziden zu vergleichen, als „Gleichsetzung“ oder „Verharmlosung“, denn dieses methodische Vorgehen stand im Widerspruch zum Dogma von der Einzigartigkeit der Verbrechen des Nationalsozialismus. Dasselbe galt für Vergleiche zwischen dem Dritten Reich und der stalinistischen UdSSR. Manchmal nahm die Angst vor dem „revisionistischen“ Potential der komparativen Methode fast schon paranoide Züge an. Dies erklärt die heftige – oder gar hysterische – Reaktion des geschichtswissenschaftlichen Establishments auf die Thesen von Ernst Nolte, der nicht nur von einem kausalen Nexus zwischen dem sowjetischen Gulag-System und Auschwitz gesprochen hatte, sondern auch die monströsen Untaten beider Diktaturen vergleichend gegenüberzustellen wagte.

Bisher übersehene Kausalketten finden

An der heftigen Ablehnung des historischen Vergleichs, insbesondere innerhalb linksgerichteter Kreise, hat sich im Prinzip bis heute kaum etwas geändert. Davon zeugt unter anderem ein Vorfall an der Berliner Humboldt-Universität vom Januar vorigen Jahres: Damals veranstaltete die Hochschulgruppe International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) ein regelrechtes Tribunal, bei dem verschiedene komparativ arbeitende Historiker, die in den Fokus der studentischen Eiferer geraten waren, auf der Anklagebank saßen. 

Gleichzeitig herrscht hierzulande der bezeichnende Zustand, daß der ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Wolfgang Benz, welcher jedweden Vergleich unter Einbezug des Holocaust vehement ablehnt, kaum Gegenwind erfährt, wenn er Islamkritik und Antisemitismus miteinander vergleicht und anschließend behauptet: „Was früher Talmud-Hetze war, ist jetzt Koran-Hetze.“

Allerdings kommt nun wohl vielleicht doch der Umschwung. Ein Hinweiszeichen hierauf ist der Sammelband „Wo liegt die Bundesrepublik?“ Zwar verrät dieser Titel zunächst erst einmal nicht, daß hier dem historischen Vergleich zu neuen Ehren verholfen werden soll – egal, was notorische Bedenkenträger vom Schlage eines Benz dazu meinen. Aber genau das ist die Intention des Werkes. 

Es wird ganz unverdrossen verglichen, was nur irgendwie zu vergleichen geht, um so zu einer „historischen Neuverortung“ der Bundesrepublik jenseits der mittlerweile sattsam bekannten Narrative „Entnazifizierung“, „Demokratisierung“, „Modernisierung“, „Verwestlichung“ oder „Amerikanisierung“ zu gelangen: Unterhaltungsserien im bundesdeutschen sowie britischen und US-Fernsehen, die Rahmenbedingungen der Tätigkeit von Architekten in Westdeutschland und Polen, die 68er Bewegung in der Bundesrepublik und Frankreich, die Rote-Armee-Fraktion und sonstige Formen des Linksterrorismus in Europa, die Bonner Energie-, Wirtschafts-, Außen- und Gesundheitspolitik und der übrigen westlichen Industriestaaten, der Jugendfreiwilligendienst hierzulande und in Großbritannien, der Umgang mit urbaner Armut in der Bundesrepublik und anderswo, die Praxis der Integration von Arbeitsmigranten sowie die Verrechtlichung des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und weiteren Ländern unseres Kontinents.

Darüber hinaus geht es aber auch um eine explizite „Rehabilitierung“ des Vergleichs. Diese erfolgt am deutlichsten im Fazit aus der Feder des deutsch-britischen Neuzeithistorikers Kiran Klaus Patel, welches den programmatischen Titel „Ex comparatione lux“ trägt: Angesichts der Tatsache, daß die scheinbar klaren Deutungsmuster hinfällig geworden seien, die sich aus diversen, mittlerweile aus der Mode geratenen Theorien ergäben hätten, benötige die Geschichtswissenschaft alternative Instrumentarien – und deshalb dürfe man keinesfalls auf die „heuristische, analytische, hermeneutische und (…) theoriebildende Kraft, die dem Vergleich innewohnt“, verzichten. Immerhin helfe der Vergleich ganz wesentlich dabei, bisher übersehene Kausalketten zu finden, alternative Deutungen vorzuschlagen, etablierte, aber ungeeignete Periodisierungen zu revidieren und die Staats- und Politikzentrierung der Zeitgeschichtsforschung durch zusätzliche Perspektiven zu ergänzen oder gar zu ersetzen. 

Damit der Vergleich die entstandene methodische Leerstelle ausfüllen und sein Potential noch besser unter Beweis stellen könne, brauche es indes eine Erweiterung der Vergleichszone in synchroner und diachroner Hinsicht sowie mehr Mut zu innovativ-unkonventionellen Fragestellungen. Und das wäre dann auch Patels einziger nennenswerter Kritikpunkt: Warum die Bundesrepublik immer nur mit westlichen Industriestaaten vergleichen (abgesehen von der Ausnahme Polen) und nicht ebenso mit all den Ländern hinter dem „Eisernen Vorhang“, die an ihren Demokratiedefiziten und ökonomischen Insuffizienzen zugrunde gegangen seien? Wieso keine Gegenüberstellung zwischen dem heutigen Deutschland und dem wilhelminischen Kaiserreich, was den Umgang mit Migranten und Minderheiten betreffe?

Die Geschichtswissenschaft geht also spannenden Zeiten entgegen – wenn die Anregungen Patels aufgegriffen werden sollten. Dazu müßten allerdings noch einige strukturelle und personelle Änderungen stattfinden. So wäre es unbedingt nötig, die professoralen Bremser, welche den Vergleich nach wie vor als „revisionistisch“ und „relativierend“ verteufeln, aus den Gutachtergremien zu verbannen, in denen entschieden wird, wer einer Forschungsförderung würdig sei und wer nicht.

Sonja Levsen, Cornelius Torp (Hrsg.): Wo liegt die Bundesrepublik? Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, gebunden, 362 Seiten, 50 Euro