© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Das Publikum soll bloß keinen Spaß haben
Wer nur einen Hammer hat, für den ist die Welt ein Nagel: Seit Jahrzehnten verhunzen Regisseure Opern
Markus Brandstetter

Jetzt stellen wir uns mal kurz vor, Sie würden auf der vollbesetzten Sonnenterrasse einer Alpenhütte in Oberbayern vor einem Bier sitzen und mit Ihrem Handy herumfummeln. Plötzlich stellt sich ein junger Mann vor Sie und all die anderen hin und schmettert aus voller Brust „Das Wandern ist des Müllers Lust“. An Stimme, Haltung und Gestus des Sängers merken Sie: das ist jetzt keine Parodie, dem ist das ernst. Der meint, was er singt. Was glauben Sie, wie die meisten Leute reagieren? Ja, genau: sie genieren sich. Denen ist das peinlich. Die lachen dumm vor sich hin, tippen angestrengt in ihre Handys, pfeifen und schnalzen zwar mit den Fingern, sind aber heilfroh, wenn der wieder aufhört.

Warum ist das so? Warum ist ein harmloses Wanderlied, dessen Text von einem guten Dichter und dessen Melodie von einem noch besseren Komponisten stammt, heute nur noch Anlaß zu peinlicher Heiterkeit? Ganz einfach: weil es mit Wandern, Wald, Mühlen und Natur zu tun hat und damit irgendwie deutsch, irgendwie altmodisch und vielleicht sogar faschistisch ist. Hätte der Sänger auf der Sonnenterrasse mit brüchiger Methadonstimme „Light my Fire“ oder „Stairway to Heaven“ gekräht, dann wäre das keinem peinlich gewesen.

Etwa 50 Opern werden andauernd gespielt

So wie es den meisten Leuten heute mit volkstümlichen Liedern geht, so geht es Opernregisseuren mit Opern: Sie sind ihnen peinlich. Die Sujets, die Texte, die Verse, die ganzen Geschichten, die in Opern erzählt werden, sagen vielen Regisseuren gar nichts. Und wenn Opern schon Regisseuren, die sich einen Magister in Germanistik erschrieben und danach an Stadttheatern

heruminszeniert haben, schon keinen Spaß machen, dann sollen sie das auch dem Publikum nicht. Diesem Publikum, das – alt und grau und bildungsbürgerlich – Opern immer noch genießen und sich an Musik, Sängern und Bühnenbild erfreuen will, anstatt zu begreifen, daß moderne deutsche Opernregie den täglichen Kampf gegen Heimat, Wald, Idylle, Kapitalismus und Faschismus bedeutet. 

Das heutige Opernrepertoire besteht auf der ganzen Welt aus etwa fünfzig Opern, die andauernd gespielt werden und 80 Prozent aller Spielpläne ausmachen, sowie aus hundert weiteren Opern, die – selten gespielt und halb vergessen – die restlichen 20 Prozent darstellen.

Die frühesten Opern, die sich bis heute im Repertoire gehalten haben, stammen von Händel und Gluck, also aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, die spätesten von Schostakowitsch, Prokofjew und Gershwin aus den 1930er Jahren. Fünf Komponisten dominieren mit den immergleichen Werken, die alle zwischen 1780 und 1910 geschrieben wurden, die Opernspielpläne der ganzen Welt: Verdi, Puccini, Mozart, Wagner und Rossini.

Die am häufigsten gespielten Opern der Welt sind in dieser Reihenfolge: „La Traviata“, „Carmen“, „La Bohème“, „Die Zauberflöte“ und „Tosca“. Allein das sagt alles: Alle diese Opern sind tonal und verfügen über ausgesprochen schöne Melodien, die auch ein musikalischer Laie nachpfeifen kann. Die Geschichten, die ihre Libretti erzählen, reichen von einer freimaurerischen Zauberstory über drei ziemlich konventionelle Dreiecksgeschichten, die sich nur durch das Milieu, in dem sie angesiedelt sind, unterscheiden, bis zu einem romantischen Schauerdrama aus Liebe, Betrug und Mord mit politischen Untertönen.

Diese Sujets sind uns heute ziemlich fremd geworden und haben mit unserer Lebenswirklichkeit nichts mehr zu tun. Und genau hier tritt der moderne Opernregisseur auf den Plan und sagt: Ich muß diese verstaubten alten Klamotten in die Gegenwart holen; ich muß sie wieder relevant machen und mich ihnen kritisch nähern, um das Überzeitliche an ihnen herauszuarbeiten. Hier fangen die Probleme an. Relevant bedeutet für moderne Opernregisseure immer gesellschaftskritisch – als wären Opern nichts anderes als Vehikel der Gegenwartskritik mit obligater Musik.

Gesellschaftskritik war nie der Hauptzweck

Nun stimmt es zwar, daß „Figaros Hochzeit“ von Mozart auch eine Satire auf den Adel darstellt, sein „Don Giovanni“ Kritik am Adel enthält und die Heldin in „La Traviata“ neben der Schwindsucht auch an einem gebrochenen Herzen stirbt, das ihr die bürgerlichen Moralvorstellungen ihrer Zeit verpaßt haben. Aber Gesellschaftskritik war nie der Hauptzweck der Oper, sondern schlicht Unterhaltung. Genau das soll sie aus Sicht zeitgenössischer Regisseure aber nicht sein. Die verstehen die Opernbühne, wie weiland Schiller das Theater, als „moralische Anstalt“ und „gesellschaftspolitisches Instrument der Aufklärung“. Dieser Anspruch hat bei Schiller und Brecht schon nicht funktioniert, und auf der Opernbühne tut er es erst recht nicht.

Inszenierungen wirken zeitgeistig beliebig

Nehmen wir ein Beispiel: Die Staatsoper Hannover spielt im Moment Carl Maria von Webers „Freischütz“ in der Inszenierung von Kay Voges. Auf der Bühne geht es kunterbunt zu. Wald, Au und Wolfsschlucht, Bauern und Jäger gibt es gar nicht, dafür alles, was der Regisseur für deutsch hält: Gestapo-Mäntel, Biergläser, Bundesligashirts, Zipfelmützen, Gartenzwerge, Dirndlkleider von Walt Disney und eine Videoprojektion marschierender Pegida-Leute.

Der Sinn dahinter leuchtete dem Publikum anscheinend nicht spontan ein, weshalb Opernhaus und Regisseur sich bemühen, ihn zu erklären. Und zwar so: Der Freischütz „ist die deutsche Nationaloper“, in der sich die „Verirrungen deutscher Geschichte in Form eines beunruhigenden Pandämoniums spiegeln“. Der Regisseur selber will anhand von Webers romantischer Schaueroper klären, „wie Nationalität im Jahr 2015 geht“.

Das ist nett gemeint, aber falsch. Der „Freischütz“ ist keine deutsche Nationaloper, sondern eine romantische Schaueroper inklusive Teufelspakt, die in einer Traditionslinie mit „Zauberflöte“, Beethovens „Fidelio“ und Marschners „Vampyr“ steht und ihren Abschluß im „Fliegenden Holländer“ findet. Weber selbst war kein Nationalist, sondern ein mehrsprachiger Kosmopolit, der in der italienischen Oper genauso zu Hause war wie in der deutschen. Der Regisseur ist offensichtlich auf die politischen Vereinnahmungen des Komponisten im späteren 19. Jahrhundert hereingefallen, die Weber zum deutschen Nationalkomponisten und den „Freischütz“ zur Volksoper erklärten – Zuschreibungen, die Weber selber fremd gewesen wären.

Aber alle Kritik ist zwecklos. Viele Opernregisseure wollen Opern gar nicht aus ihrer Zeit heraus verstehen, sie auf ihren Gehalt reduzieren und dann den überzeitlichen Kern modern, aber werktreu, respektvoll und inspiriert neu interpretieren. Sie suchen nur eine Projektionsfläche für das Sammelsurium zeitgeistiger Durchschnittsmeinungen, das in ihrem Hirn herumspukt.

Das erklärt, warum viele Inszenierungen immer gar so beliebig wirken, warum Götter, Helden und Schurken andauernd in Unterhosen, Primadonnen halb- oder gleich ganz nackt singen müssen, es ohne Urin, Kot, Blut und Sperma gar nicht mehr geht und die Liebesszenen einen immer an alte Pornos erinnern. Aber klar: Wer nur einen Hammer hat, für den ist die Welt ein Nagel. 

Richtig wäre es, dem Publikum seine Freude an den großen Repertoire-Opern zu lassen, diese behutsam, aber respektvoll zu modernisieren, ohne aus einer alten Gespenstergeschichte immer gleich den Morgenappell in Ausschwitz zu machen. Will ein Regisseur sich gesellschaftskritisch austoben, dann kann er das ja an Alban Bergs „Lulu“ oder Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ tun – Opern, in denen Gesellschaftskritik und die dazu passende Musik, die garantiert keiner nachpfeifen kann, Sinn und Zweck der ganzen Angelegenheit ist.