© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

Zum Reizwort „völkisch“
Ein schwieriger Begriff
Karlheinz Weißmann

Auf den ersten Blick erscheint die Sache klar. „Völkisch“ ist ein Begriff der „Völkischen Bewegung“. Die war ein Vorläufer des Nationalsozialismus, der nicht nur über einen Völkischen Beobachter verfügte, sondern regelmäßig „völkische“ Grundsätze vertrat.

Auf den zweiten Blick stellt sich die Sache etwas anders dar. Selbst die ganz den Regeln historischer Korrektheit folgenden Herausgeber des „Handbuchs zur ‘Völkischen Bewegung’ 1871–1918“ meinen, daß die Beziehung zwischen Völkischen und Nationalsozialisten „schwierig“ war. Hitler hat sich abfällig über die „völkischen Wanderscholaren“ geäußert, deren positive Leistung gleich null sei, oder über die „völkischen Ideologen“, die allen historischen Fortschritt rückgängig machen wollten, um „im vermeintlichen Bärenfell aufs neue ihre Wanderung anzutreten“. Nach 1933 wurden die Vordenker der Völkischen an den Rand gedrängt und unter Verdacht gestellt, völkische Vereine und völkische Publikationen verboten und einzelne, besonders renitente Vertreter – der völkische Okkultist Friedrich Bernhard Marby oder der völkische Monarchist Reinhold Wulle zum Beispiel – im KZ inhaftiert.

Allerdings ging es bei dem Konflikt zwischen Völkischen und Nationalsozialisten nicht um Differenzen der Weltanschauung, sondern um deplaziertes Sendungsbewußtsein, fehlende Einordnungsbereitschaft und einen eklatanten Mangel an praktisch-politischem Sinn. Hitler wollte keine Ratschläge vom Ehepaar Ludendorff zur Bekämpfung des großen Komplotts, für die Gestapo war unerheblich, ob völkische Logen oder Freimaurer Absprachen im verborgenen trafen, und der „totale Staat“ tolerierte die Auffassung nicht, daß um der Reinheit der Sache willen Abkommen mit dem „artfremden“ Japan unterbleiben müßten.

„Volkheit“ gehört wie „Volkstum“, „volkstümlich“, „volklich“ oder „völkisch“ zu jenen Begriffen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Umlauf kamen, als man nach Möglichkeiten suchte, das auszudrücken, was in anderen Sprachen unter „Nation“ fällt.

Was die Verklärung der germanischen Ursprünge, den Antisemitismus, die Ablehnung des Parlamentarismus und die Befürwortung einer Diktatur betraf, gab es jedenfalls kaum Unterschiede zwischen Völkischen und Nationalsozialisten. Nur daß die NSDAP eine moderne Volkspartei unter einem skrupellosen Führer war, der Prinzipien hintanstellte, um an die Macht zu kommen, während die Völkischen auf einer Sicht der Dinge beharrten, die immer davon ausging, daß es letztlich das ehrliche Wollen des einzelnen und die wahrhafte Überzeugung, die geduldige Aufklärung und das Wirken der kleinen Kreise seien, die zum Erfolg führten. Der Aufstieg Hitlers war nicht zu erklären ohne den Frontverlauf des „Europäischen Bürgerkrieges“ (Ernst Nolte). Die Bedeutungslosigkeit der Völkischen hatte damit zu tun, daß ihre Bewegung unter ganz anderen, wenn man so will: idyllischen, Bedingungen entstanden war.

„Völkisch“ ist ein zwar schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftretender, aber eher selten verwendeter Begriff, der sich von „Volk“ herleitete und im Prinzip nichts anderes bedeutet, als „zum Volk gehörend“. Erst 1875 hat der Historiker Hermann von Pfister-Schwaighu­sen vorgeschlagen, „völkisch“ als betont deutsches Ersatzwort für „national“ zu verwenden. Danach setzte sich der Gebrauch zuerst in der Donaumonarchie und dann im Reich durch. Neben Gruppierungen wie dem „Verein für das Deutschtum im Ausland“ oder dem „Allgemeinen deutschen Schriftverein“ sowie der breiten „deutschnationalen“ Bewegung in der Habsburger Monarchie gab es auch einflußreiche berufsständische Organisationen wie den „Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband“ und dann eine Unzahl kleiner und kleinster Gruppierungen, die sich als „völkisch“ bezeichneten und entweder weltanschaulichen Projekten oder allen möglichen Fragen des praktischen Daseins widmeten: Wagner- oder Gobineau-Verehrer, Schulreformer, Lebensreformer, Kleiderreformer, Sexualreformer, Baureformer, Rassezüchter, Vegetarier, Abstinenzler, Nicht-Esser, Tierschützer, Befürworter von ökologischer Landwirtschaft, Heimatpflege, Jugendwandern, Volksliedsammler oder Anhänger eines neugermanischen Glaubens. Einige dieser Gruppierungen hatten, vor allem wenn sie religiöse Ziele verfolgten, einen ausgesprochen sektiererischen Charakter, andere, etwa der „Deutschbund“ oder der „Alldeutsche Verband“, dienten als Lobbygruppen, die Einfluß auf die Machtzentren der Gesellschaft nehmen sollten.

Eine politische Zusammenfassung der Völkischen gelang aber nie. Das hatte zum einen mit dem ausgeprägten Individualismus der Anhängerschaft zu tun, erklärte sich zum anderen aus der Verschiedenheit der Parteisympathien. Selbstverständlich gab es diejenigen, die die kleinen, aber erfolglosen Antisemitenparteien unterstützten, dann eine ausgesprochene völkische Rechte, aber eben auch solche, die sich wie der Maler Hugo Höppener – „Fidus“ – eine Zeitlang im Umfeld der Sozialdemokratie und der Freidenker bewegten, oder den „Gottsucher“ Wilhelm Schwaner, der die auflagenstarke Zeitschrift Der Volkserzieher herausgab und öffentlich zur Stimmabgabe für die Linksliberalen aufrief.

Zu betonen ist, daß der Einfluß der Völkischen vor dem Ersten Weltkrieg weniger politische als kulturelle Ursachen hatte. Das erklärte sich vor allem durch eine im weiteren Sinne völkische Literatur, die das bürgerliche Publikum las, weil der idealistische Zug darin dem Zeitgeist entsprach: angefangen bei Paul de Lagardes „Deutschen Schriften“ über Julius Langbehns Bestseller „Rembrandt als Erzieher“ bis zu den historischen Romanen Felix Dahns oder den Isländergeschichten, die Arthur Bonus herausgab. Allerdings war der Inhalt dieser Bücher mehr oder weniger weit entfernt von dem, was den harten Kern der völkischen Ideologie ausmachte: die Betonung des „Rassestandpunkts“ in Kombination mit Eugenik und „socialem Darwinismus“ einerseits, dem Antisemitismus andererseits, dessen Spektrum von der Einführung des „Arierparagraphen“ in den Satzungen völkischer Vereine bis zu Plänen reichte, die Emanzipation der Juden rückgängig zu machen oder sie – im äußersten Fall – auszustoßen und zu deportieren.

Unter dem Eindruck der militärischen Niederlage von 1918, des Zusammenbruchs der alten Ordnung und des Aufstiegs der revolutionären Linken haben sich die völkischen Positionen weiter verschärft, und im Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit konnte man den Eindruck gewinnen, als ob Organisationen wie der „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“, der zeitweilig mehr als zweihunderttausend Mitglieder hatte, oder die aus ihm hervorgegangene „Deutschvölkische Freiheitspartei“ politisches Gewicht erlangen könnten. Mehr noch, „völkisch“ erschien als geeignete Sammelbezeichnung für alle Bestrebungen, die sich weder mit Versailles noch mit Weimar abfinden wollten.

Aber diese Konjunktur hielt nicht an. Aufschlußreich sind in dem Zusammenhang die Stellungnahmen Wilhelm Stapels, ohne Zweifel einer der einflußreichsten Rechtsintellektuellen der zwanziger und dreißiger Jahre. Hatte Stapel anfangs seine eigene Position ohne Vorbehalt „völkisch“ genannt, nahm er nach kurzem eine deutlich kritischere Haltung ein. Jetzt ging es ihm nur noch um das „Elementare“, das in der Strömung zum Ausdruck kam, und das man nutzen könne, falls es umzuformen sei im Sinne einer neuen Nationalbewegung. Schließlich kam Stapel zu der Erkenntnis, daß den Völkischen aufgrund ihres „negativen Programms“ – des Antisemitismus wie der unterschiedslosen und haßerfüllten Hetze gegen die Republik – etwas anderes entgegengesetzt werden müsse, das auch konstruktive Möglichkeiten biete.

Stapel hat deshalb seine Position nicht mehr als „völkisch“, sondern als „volkskonservativ“ bezeichnet und gegen den Begriff des Völkischen auf einen anderen abgehoben, der nicht naiv das Naturhafte eines Volkes zum Maßstab machte: den der „Volkheit“. Er bezog sich dabei ausdrücklich auf einen Passus aus Goethes „Maximen und Reflexionen“, in dem es heißt: „Wir brauchen in unserer Sprache ein Wort, das, wie Kindheit sich zu Kind verhält, so das Verhältnis Volkheit zum Volke ausdrückt. Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind; der Gesetzgeber und Regent die Volkheit, nicht das Volk. Jene spricht immer dasselbe aus, ist vernünftig, beständig, rein und wahr; dieses weiß niemals für lauter Wollen, was es will. Und in diesem Sinne soll und kann das Gesetz der allgemein ausgesprochene Wille der Volkheit sein, ein Wille, den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige vernimmt und den der Vernünftige zu befriedigen weiß und der Gute gern befriedigt.“

„Volkheit“ gehört wie „Volkstum“, „volkstümlich“, „volklich“ oder „völkisch“ zu jenen „Kunstworten“ (Friedrich Ludwig Jahn), die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Umlauf kamen, als man nach Möglichkeiten suchte, das auszudrücken, was in anderen Sprachen unter „Nation“, „national“ oder „patriotisch“ fällt, aber doch nicht ganz deckungsgleich mit diesen Begriffen ist. Nicht ganz deckungsgleich insofern, als die Deutschen zur damaligen Zeit zwar eine erkennbare Kultur- und Sprachgemeinschaft bildeten, die durch eine lange Tradition verbunden war, aber keine politische Einheit. Die damit verbundenen Schwierigkeiten hatten selbst einen Mann wie Ernst Moritz Arndt zu dem verzweifelten Ausruf gebracht: „Zu meinem Volke wollte ich reden; aber wie spreche ich zu dir, deutsches Volk? Was bist du und wo bist du?“ Die Beantwortung dieser Frage mußte um so schwerer fallen, als „Volk“ auch verstanden werden konnte (und bis heute verstanden werden kann) als beliebige, aber begrenzte Zahl von Menschen oder als Menge der einfachen Leute.

Trotzdem wird man feststellen können, daß sich der Begriff „Volk“ bis zur Märzrevolution von 1848 so weit vereindeutigt hatte, daß er als Synonym für Nation galt. Deshalb lag es in der Logik der Entwicklung, daß man auch einen Namen für jene Haltung finden mußte, die das aufs äußerste gesteigerte Bekenntnis zur Nation bezeichnete, also ein Äquivalent zu „Nationalismus“, „Chauvinismus“, „Jingoismus“, „Amerikanismus“, und dabei auf das Wort „völkisch“ kommen konnte. Selbst wenn das aus heutiger Perspektive nur noch schwer nachvollziehbar ist, bleibt die Tatsache, daß an der prinzipiellen Berechtigung einer solchen Tendenz zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum Zweifel bestand. Walther Rathenau, übrigens mit dem erwähnten Schwaner befreundet, schrieb, es sei unbezweifelbar, daß jene Bewegung, die die „Rückkehr zum Germanentum wünscht, sehr wohl geachtet und verstanden werden“ könne, allerdings müsse man ihr vorhalten, daß der „Antisemitismus … die falsche Schlußfolgerung aus einer höchst wahrhaften Prämisse“ sei.

Mit dem Begriff „völkisch“ sollte auch das „Volk“ als maßgebende Größe getroffen und erledigt werden. Aber auch der, der um diesen Hintergrund weiß, muß sich fragen lassen, ob es sinnvoll ist, das „Volk“ zu verteidigen, indem er das „Völkische“ einbezieht.

Der Versuch, eine „positiv-völkische“ Richtung zu schaffen, ist zwar immer wieder gescheitert, trotzdem etablierte sich eine verhältnismäßig breite und unreflektierte Akzeptanz des Begriffes „völkisch“ auch außerhalb der strengeren weltanschaulichen Zuordnung. Die Ursache dafür war selbstverständlich die positive Wertung des Volkes, die sich seit der Reichsgründung von 1871 auch verfassungsrechtlich durchsetzte und ihren Niederschlag zuletzt in der Festlegung des Volkes als Träger der staatlichen Ordnung fand. Infolgedessen war der Terminus „Volk“ noch für die Väter des Grundgesetzes beides gleichermaßen: unbelastet und notwendig. Das entsprach einem sehr weitgehenden – sogar von der DDR-Führung akzeptierten – Konsens und erklärt auch die Unbekümmertheit, mit der das Wort „völkisch“ nach dem Ende des NS-Regimes weiter Verwendung fand, selbst in der wissenschaftlichen Literatur, ganz gleich, ob es sich um Ethnologie, Geographie, Historiographie oder Theologie handelte. Man betrachtete „völkisch“ einfach als das Adjektiv, das von „Volk“ abgeleitet war.

Erst im Gefolge der Kulturkriege der sechziger Jahre hat sich das geändert. Man kann das als Erfolg einer sprachlichen Sensibilisierung werten, darf aber nicht übersehen, daß es bei solchen Konflikten immer nur vordergründig um moralische Fragen geht. Hier war das Ziel, eine bestimmte Terminologie zu tabuisieren und gleichzeitig die Sache, die dahintersteht, für unwirklich, unbrauchbar oder böse zu erklären. Mit dem Begriff „völkisch“ sollte jedenfalls nicht nur eine Vorstellung getroffen werden, die zu Recht als erledigt und verdammt gilt, sondern auch das „Volk“ als maßgebende Größe.

Aber auch derjenige, der um diesen Hintergrund weiß, muß sich fragen lassen, ob es sinnvoll ist, das „Volk“ zu verteidigen, indem er das „Völkische“ einbezieht. Selbstverständlich gibt es Worte, die zu Unrecht verworfen sind, und andere, die nach einer langen Zeit des Vergessens wieder jungfräulich scheinen. Aber nichts davon ist hier der Fall, und zu den Regeln der Rhetorik gehört, daß das, was man sagt, in den Ohren der Hörer wohl klingen muß, und ganz gleich, was man sonst vorbringen mag: das tut das Wort „völkisch“ nicht – tat es nie.






Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Historiker, Publizist und Buchautor. Er arbeitet im Höheren Schuldienst des Landes Nieder­sachsen. Auf dem Forum schrieb er zuletzt für die Artikelserie „Was ist heute deutsch?“ über die Vergewisserung des Eigenen („Es geht um Existenzfragen“, JF 23/16).