© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

Ausgang aus der Unmündigkeit
Das Gefäß Deutschland und der Brunnen des Bösen: Die Kamenzer Rede des Schriftstellers Jörg Bernig
Sebastian Hennig

Seit zehn Jahren wirkt in der Geburtsstadt von Gotthold Ephraim Lessing eine Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption. In der Selbstdarstellung heißt es: „Ziel der Einrichtung ist es, Lessings Ideenwelt und darüber hinaus den geistigen Gehalt der Aufklärungsepoche impulsgebend mit den aktuellen Fragen geistiger und kultureller Entwicklungen in der Bundesrepublik zu verbinden und öffentlichkeitswirksam im Bewußtsein zu halten.“

Was die Phraseologie einer Antragsprosa sein könnte, birgt einen hohen Anspruch. Dieser wird unter anderem mit den Kamenzer Reden eingelöst. Der einstige Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer stieg am 11. September 2014 zur ersten Kamenzer Rede sogar auf die Kanzel in der zu einem Sakralmuseum umgebauten Annenkirche. Voriges Jahr sprach dann der deutsch-türkische Schriftsteller Feridun Zaimoglu. Am 7. September hielt nun der Schriftsteller Jörg Bernig die dritte Kamenzer Rede mit dem Titel „Habe Mut ...“.

An der Einführung des Kamenzer Oberbürgermeisters zerren unsichtbare Kraftfelder. Diplomatisch bemüht sich Roland Dantz nicht vergeblich, die normale Ergänzung von Reden und Zuhören einzufordern, die im verwahrlosten Diskurs der Bundesrepublik nur noch so selten vorkommt, wie die Südfrüchte weiland im Obsthandel der DDR. Er beginnt darum sein Grußwort mit dem Hinweis: „Wir hätten es wissen müssen“, um gleich anzudeuten, daß es vor der Veranstaltung „kontroverse Diskussionen“ gegeben hätte. Den Redner charakterisiert er als einen „streitbaren Geist, vielleicht sogar einen umstrittenen“. Uneingeweihte könnten meinen, ein notorischer Provokateur und Querulant würde hier angekündigt. Doch das ist weit gefehlt.

Rückschritt hinter aufklärerisches Denken

Wer sich dem Dichter und Schriftsteller Jörg Bernig über seine Romane und Gedichte annähert, der lernt ein Naturell kennen, das auf Ausgleich und Einvernehmen gestimmt ist. Nach den Worten des Oberbürgermeisters ruft Michael Hametner, vormaliger Literaturredakteur des Mitteldeutschen Rundfunks, das literarische Werk in Erinnerung. Auf nahezu magische Weise beschwören die von ihm zitierten Verse den Gehalt der dichterischen Existenz und bauen das Fundament, bevor sich der Poet so weit aus dem Elfenbeinturm lehnt, wie es nur irgend geht, ohne abzustürzen.

Jörg Bernig plädiert für die Freiheit der Erfindung und gibt zugleich zu bedenken, daß der Dichter durchaus deutet, was geschieht. Er meldet sich zu Wort, wo Möglichkeiten in Gefahr sind. Wer genau zuhört, der erkennt als Rückgrat der kulturpolitischen Rede die Poetologie des Dichters. Wer, wie dieser, mit und durch die deutsche Sprache werkt und wirkt, dem kann die Zukunft der Deutschen und ihres Landes nicht gleichgültig sein.

Die Gefahren bezeichnet von Bernig als ideologische Kernschmelze zwischen Politik und Publizistik. Peter Handke hat vor Jahren den Einbruch des journalistischen Jargons in die erzählende Sprache mit ähnlicher Heftigkeit gegeißelt. Dem Volk wird zugemutet, sich als formbare Bevölkerung zu sehen. Friedrich der Große hätte verkündet: Räsoniert soviel ihr wollt, aber gehorcht. Der gegenwärtige Zustand will selbst das Räsonieren unterbinden. Das ist ein Rückschritt hinter aufklärerisches Denken. Anstelle der Ratio sei ein erregtes Moralisieren getreten. Dreimal beschwört Jörg Bernig in seiner Rede Immanuel Kants Aufforderung zum „Sapere aude!“: „Unsere Liturgie sei: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“

Die Verdunklung droht heute in Form des fortgesetzten Ethnic Engineering des 20. Jahrhunderts. Er erinnert an den Amtseid der Kanzlerin und attestiert ihr: „Sie hat dieses Europa zerschlagen. Und abermals schauen wir auf eine Welt von gestern.“ Über die 20- bis 30jährigen Deutschen würde das Volk einer grundlegenden Veränderung unterzogen werden. Diesen gegenwärtig fünf Millionen Frauen und fünf Millionen Männern seien allein 2015 eine dreiviertel Million gleichaltriger landfremder Männer entgegengestellt worden. Diese Regulierung der Bevölkerung erfolge allein aus ökonomischer Perspektive.

Das Streben, ein Volk umzubauen, schöpfe aus dem gleichen Brunnen des Bösen wie die Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts. „Ist das nicht auch ein rassistischer Ansatz?“ fragt Bernig. Der obere Mittelstand, jene Kaufleute, Tempelherren und Wesire, die schon in Lessings Nathan so ungerührt ihre Angelegenheiten über das gemeine Volk hinweg ausgetragen hätten, besäßen die Flexibilität oder den Opportunismus.

Die Nennung dieser Funktionselite führt direkt zum heikelsten Teil der Rede, dem sich einige zu gern mit dem Hinweis auf Bernigs „steile Thesen“ entziehen würden. Er spricht von den „seit der Wiedervereinigung nicht geklärten Deutschlandvorstellungen“ und erwähnt dabei die seit vielen Monaten unvermindert in Dresden gegen die Regierungspolitik und Staatsnähe der Medien Demonstrierenden. „En passant wurde 1989 mit der DDR auch die alte Bundesrepublik abgeschafft.“ Doch im Westen lebe man noch überwiegend in der Bundesrepublik, im Osten in Deutschland. 1989 hätte sich die Fortsetzung und Vollendung von 1848/49 ereignet. „Seit der Wiedervereinigung wird das Auffüllen des Gefäßes Deutschland mit dem Deckel Bundesrepublik verhindert.“ Das Land sei dadurch in eine verzweifelte Lage geführt worden. Die Verdunkler und Verheimlicher stünden dabei gegen die Aufklärer und die Vernunft. Es ginge um die Verteidigung der Aufklärung.

Akademie der Künste distanzierte sich von ihm

Eine solche Rede scheint bisher nur in der Provinz möglich zu sein. Sie ist tief in Werk und Biographie des Schriftstellers verankert. Der Ausgang aus der Unmündigkeit erfolgte bei Jörg Bernig unmittelbar nach der Wende als Wechsel des Lokals. Drei Jahre war er als Lehrer und Lektor in Wales tätig, wo er noch heute an der Universität von Swansea ein gern gesehener Gast ist. Als Germanist promovierte er 1996 mit einer Arbeit zur Stalingrader Schlacht in der Literatur nach 1945 und war einer der Redakteure der Dresdner Literaturzeitschrift Ostragehege, Mitherausgeber mehrerer Publikationen über die Lebensläufe zeitgenössischer Autoren in Mitteldeutschland, sein erster Roman „Dahinter die Stille“ erscheint 1999, drei Jahre später der zweite, „Niemandszeit“. Es folgen Bände mit Gedichten und Essays.

Jörg Bernig versteht sich zwar nicht als Seismograph, doch mit seinem jüngsten Roman „Anders“ ist er es ungewollt geworden. Im Herbst 2014 erschienen, verleiht der jenem Gefühl Ausdruck, das zeitgleich von den Demonstranten nach fünfundzwanzig Jahren erneut auf die Straßen von Dresden getragen wird. Im Herbst des vergangenen Jahres verfaßte er den Text „Zorn allenthalben“, der nach wochenlangen vergeblichen Bemühungen um Veröffentlichung kurz vor Weihnachten von der Sächsischen Zeitung abgedruckt wird. Sogleich distanzierte sich die Sächsische Akademie der Künste öffentlich von der Äußerung eines ihrer Mitglieder.

Man hätte es allerdings wissen müssen. Denn schon am 6. Mai 2008 hat Jörg Bernig in der Sächsischen Zeitung gefragt: „Wo bleibt der Respekt vor dem Opponenten?“ Anlaß war der erzwungene Rückzug des vom Thüringer Ministerpräsidenten Althaus designierten Kultusministers Peter Krause. Wegen einer zehn Jahre zurückliegenden Tätigkeit als Redakteur der jungen Freiheit wurden Krause und seine Familie mit einer niederträchtigen Kampagne überzogen. Bernig diagnostizierte daran ein „west-östliches Verstehensproblem“ und bezeichnet die Auseinandersetzung als einen „Zusammenprall einer altbundesrepublikanisch geprägten, ideologisierten Medien- und Parteiendemokratie mit einer ostdeutschen Aufmüpfigkeit, die sich aus der großen antitotalitären Leistung von 1989 speist“.

Der Ausgang aus der Unmündigkeit gleicht dem Austritt eines Karstflusses. Das Rauschen des unterirdischen Stromes war zu vernehmen, bevor er 1989/90 mächtig ausbrach. In der Folge wurden seine Wasser rasch wieder kanalisiert und verrohrt. Der allzu hektischen Drainage ist die Abdichtung jedoch nicht völlig gelungen. Wer dergleichen Naturmächte als Landschaftsbestand inventarisieren will, der wird darüber belehrt werden, daß sich Elementarkräfte nicht in von Menschen gemachten Gefäßen unterbringen lassen.

Anläßlich einer Lesung Jörg Bernigs aus seinem Roman „Anders“ in der Bayerischen Akademie der Künste, deren Mitglied der Dichter ebenfalls ist, hat Gert Heidenreich auf die Bedeutung der Natur in Bernigs Werk hingewiesen: „Immerhin scheint die Natur standzuhalten. Sie spielt in diesem Roman eine eigene, personale Rolle; in ihr zeichnen sich die Emotionen der Menschen ab, die sie selbst kaum mehr ausdrücken können. Die Natur symbolisiert hier nichts, wird nicht als Metapher gebraucht: Sie handelt, sie macht aufmerksam; sie zeigt das Werden und Vergehen, das den Figuren aus dem Blick geraten ist; …“ Jörg Bernig wohnt in Kötzschenbroda an der Elbe. Und dieser Fluß hat seine Anwohner binnen eines Jahrzehnts zweimal mit Überschwemmungen an sein Dasein erinnert.

Das Programm von MDR Figaro überträgt die 3. Kamenzer Rede mit Jörg Bernig am 1. Oktober 2016 um 22 Uhr.

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