© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

Pankraz,
K. D. Bracher und die gehaßte Historie

Hochbetagt mit 94 Jahren und dennoch zu früh verstarb jetzt in Bonn Karl Dietrich Bracher, der allerseits als „Politikhistoriker“ apostrophierte und gerühmte Universitätsprofessor, der zahlreiche prominente Schüler hatte und dennoch nie eine Schule begründete und auch keine  begründen wollte. Viele warteten auf eine Stellungnahme von ihm zum aktuellen Streit über das Fach Geschichte an den Schulen der deutschen Länder; „fortschrittliche“ Pädagogen und Kulturbürokraten wollen es bekanntlich abschaffen, es durch ein Fach „Politologie und Demokratielehre“ ersetzen. Brachers erhofftes Wort dagegen ist leider ausgeblieben.

Dabei wäre seine Stimme gerade in dieser Angelegenheit so hilfreich gewesen!. Der Mann war ein lupenreiner Demokrat, und an Erkenntnissen über die Methoden moderner Politik, ihre Kniffe und Winkelzüge, konnte ihm keiner das Wasser reichen. Trotzdem – oder eben deshalb – lehnte er den Begriff einer alle Epochen umfassenden allgemeinen Politologie und Demokratielehre ab. Politik, auch und nicht zuletzt demokratische Politik, war für ihn jeweils geprägt von konkreten historischen Situationen und nur im Zusammenhang mit ihnen verstehbar und auslegbar. Deshalb also „Politikhistoriker“ und nicht „Politologe“.

Karl Dietrich Bracher war es, der die Differenz zwischen  (positiv zu bewertendem) „Liberalismus“ und (höchst problematischem) „Demokratismus“ anhand von historischen Phänomenen scharf herausarbeitete, zum Beispiel durch eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Voltaire und Rousseau in der Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Allein der Voltairesche „angelsächsische“ Liberalismus, argumentierte Bracher, sei pluralistisch und tolerant gewesen, nur er habe ein repräsentatives parlamentarisches System möglich gemacht.

 

Rousseaus „kontinentaler“ Demokratismus hingegen habe sich an einer abstrakten volonté générale orientiert, an einem von einigen  Intellektuellen über alle historische Erfahrung hinweg deklarierten „allgemeinen Volkswillen“, in dessen Namen dann die Revolutionäre von 1789  ohne Wahl und Einspruchsmöglichkeit zu regieren begehrten. András Hegedüs und Leczek Kolakowski, die Theoretiker des Umbruchs im Osteuropa von 1989, haben im Anschluß an Bracher genau herausgearbeitet, daß just diese Wende der Jakobiner von 1793 unheilvoll folgenreich gewesen ist, indem sie die marxistische Bewegung tief beeinflußte.

Und nicht nur diese allein! Der von Bracher diagnostizierte Wahn, alles in der Politik „streng wissenschaftlich“ organisieren zu wollen, die Degradierung des politischen Gegners zum absoluten Feind, der kriminalisiert werden muß, die Abschaffung möglichst sämtlicher mediatisierender Zwischeninstanzen im Spannungsfeld zwischen Staatsbürger und volonté générale – all das sei später zum Glaubensinhalt linker Unterdückungsmethodik geworden und habe die politisch-soziale Entwicklung in vielen Teilen der Welt in die Sackgasse geführt, führt sie jetzt noch hinein,wie nicht zuletzt die aktuelle Lage in Deutschland zeigt.

Die geplante Abschaffung des Geschichtsunterrichts an den Schulen ist Moment dieser unheilvollen Entwicklung. Geschichtsunterricht, heißt es bei den Abschaffungsaposteln, sei „überflüssig“, an seine Stelle müsse ein „für die Bewältigung der Gegenwartsprobleme nützliches“ Fach treten, eine Art säkularisierter Religionsunterricht, in dem die Schüler mit den über die Zeiten hinweg unveränderbaren Theoremen eines guten, humanen Lebens bekannt gemacht werden müßten.

Fallbeispiele aus der Geschichte vorzutragen und zu erläutern, sei dabei durchaus willkommen, aber einen durchlaufenden Geschichtsunterricht sollte es in Zukunft auf gar keinen Fall mehr  geben. Denn „die“ Geschichte gebe es ja nicht, es gebe nur einzelne historische Ereignisse, die die Lebenden nach Gusto erinnern oder vergessen, je nachdem wie es ihr aktueller Alltag erfordert. „Lernen“ will man von den Ahnen zwar gegebenenfalls noch ein bißchen, doch im Grunde weiß man es allemal besser. Die Besserwisserei dank später Geburt rückt zum Grundprinzip des echt modernen Oberlehrers auf.


Es handelt sich da um eine regelrechte Kulturrevolution im Sinne des verflossenen chinesischen Großtyrannen Mao Tse-tung. Sämtliche Parameter des geistigen Lebens werden um volle hundertachtzig Grad gedreht. Unser eingeborener Respekt vor den Ahnen, auf deren Schultern wir stehen und deren Taten unsere Kunst und Literatur prägen, verwandelt sich in nur oberflächlich verdeckten Haß auf sie, in Neid und Verachtung wegen ihrer angeblichen Unaufgeklärtheit. Pankraz hebt sich der Magen. 

An den künftigen Nichtgeschichtsunterricht will er gar nicht denken. Von Politikhistorie à la Karl Dietrich Bracher nicht die kleinste Spur mehr, statt dessen nur noch ödes Pauken aktuellen Politjargons, inklusive Verdammungssprüchen gegen amtlich markierte  „Demokratiefeinde“,die entweder mit Adolf Hitler,  Kaiser Nero oder Timur Lenk verglichen werden. Was für eine Erholung für Schüler und Hospitanten wäre da der Auftritt eines  Geschichtslehrers alten Stils, der ohne Scheuklappen, exakt und farbenreich, einfach von der  Geschichte der Völker und ihrer Repräsentanten erzählen würde!

Der Unterricht würde endlich wieder spannend und unterhaltsam. Aber auch zu lernen wäre dabei ungleich mehr, nicht zuletzt dies, daß wahre, ohne überhebliche Einsprüche erzählte Geschichte „wie von  selbst“, wie es Nietzsche in seinem „Ecce Homo“ formulierte, „die experimentelle Widerlegung“ jeder Annahme einer angeblich unverbrüchlichen, politologisch vorhersehbaren Weltordnung liefert.

Schüler, die Latein gehabt haben, würden da eventuell auch an den alten Horaz denken. „Geschichte“, predigte der jedem seiner Zuhörer schon vor 2.000 Jahren, „handelt von dir, nur der Name ist geändert“ („Mutato nomine de te fabula narrator“). Das ist es wohl, was die heutigen Besserwisser die Historie so hassen läßt.