© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Treiber der weltweiten sozialen Ungleichheit
Max-Planck-Gesellschaftsforschung: Die Politik im festen Griff der Finanzindustrie
Dirk Glaser

Nach dem Platzen der US-Immobilienblase im September 2008, dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers und den anschließenden globalen Verwerfungen, die nicht nur Angela Merkel und ihren damaligen Finanzminister Peer Steinbrück „in den Abgrund“ einer Weltwirtschaftskrise blicken ließen, ist fast nichts von dem ins Werk gesetzt worden, was Politik und Wirtschaft damals zwecks Reform des „Casino-Kapitalismus“ versprochen hatten. Um letztlich den Status quo ante zu bewahren, habe man sich zu den eigentlichen Ursachen der Krise, so klagt die Wirtschaftshistorikerin Jenny Andersson, nicht vorgewagt. Weder sei die Macht der Finanzmarktakteure gebrochen worden, noch änderte sich etwas an ihrer Dominanz, und schon gar nicht stand die Ideologie „dauerhaften Wachstums“ auf dem Prüfstand.  

Andersson untersucht am MaxPo, einem gemeinsamen Projekt des Kölner Max-Planck-Instituts (MPI) für Gesellschaftsforschung und der Eliteuniversität Sciences Po in Paris, die ökonomischen Ursachen des politischen und sozialen „Dauerkrisenmodus“, in dem sich die Staaten der Europäischen Union seit bald zehn Jahren befinden. Zusammen mit ihrem Mit-Direktor, dem Wirtschaftssoziologen Olivier Godechot, hebt Andersson als auffälligsten Indikator der chronisch instabilen Lage Europas, der wachsenden Unsicherheit, Frustration und „Sehnsucht nach einfachen politischen Antworten“, die für jedermann erfahrbare, im Eiltempo voranschreitende soziale Ungleichheit hervor. 

Dieser Prozeß habe allerdings seinen Ursprung nicht in der US-Finanzkrise. Die sei nur eine, wenn auch wichtige Etappe auf dem Weg der neoliberalen Globalisierung, mit der man in New York und London in den 1970ern eine Antwort gefunden zu haben glaubte auf die von der Ölpreiskrise ausgelöste Stagnation des Wachstums in den westlichen Industrieländern (Max Planck Forschung, 2/2016).

Wirtschaftliberale Theoretiker, so die beiden Pariser Forscher, hätten erfolgreich den nach 1945 vor allem auf dem Kontinent ausgebauten Sozialstaat als Hindernis für die „dynamische Marktentwicklung“ denunziert, weil die öffentliche Daseinsvorsorge angeblich ineffizient sei und ihre zu hohen Kosten durch „Wettbewerb“ gesenkt werden müßten. 

Immer stärkerer politischer Einfluß der Finanzindustrie

Was dabei herausgekommen sei, lasse sich am Beispiel sozialer Wohnungsbau studieren. In Deutschland zog sich der Staat seit den 1990ern zunächst aus dem Wohnungsbau, dann aus der Wohnbauförderung zurück. Heute zeige sich, daß „der Markt“ bei der Beschaffung günstigen Wohnraums gänzlich versagt hat. Nach jüngsten Erhebungen seien 95 Prozent der von privaten Investoren errichteten Neubauwohnungen zu teuer für Durchschnittsverdiener. Ähnlich krasse „Defizite“ wiesen inzwischen einst klassische staatliche Domänen wie das „liberalisierte“ Gesundheitswesen und das Rentensystem auf. 

Da die Politik die Kriseneskalation des Jahres 2008 eben nicht nutzte, um sich von den „Märkten“ stärker zu emanzipieren, müsse man heute konstatieren, daß „die Wirtschaft“ in westlichen Gesellschaften die „Art und Weise dominiert, wie wir überhaupt über die Zukunft denken können“. Die „Finanzialisierung“, der Einfluß der Finanzindustrie auf die Politik, schreite ungebremst voran. Und mit dem Anstieg der Finanzmarktaktivitäten nehme soziale Ungleichheit zu. Große Finanzzentren wie London oder Frankfurt ließen sich eindeutig als „Treiber für die soziale Ungleichheit eines Landes“ bezeichnen. 

Die „alten Volksparteien“ ordneten sich deren Diktat unter, würden die dadurch erzwungene „Sparpolitik“ als „alternativlos“ verkaufen, bedrohten damit den sozialen Status ihrer traditionellen Klientel, der Mittelschicht, und förderten darum unfreiwillig „das Erstarken populistischer Parteien“. Verglichen mit den zahlreichen, tiefer schürfenden Analysen des Soziologen Wolfgang Streeck (JF 2/16), bis 2014 MPI-Direktor in Köln, vermitteln Andersson und Godechot hier keine sonderlich originellen Einsichten und nicht einmal den Ansatz eines Therapievorschlags, obwohl sie doch erklärtermaßen systemkonforme Rezepte liefern wollen, „um den Populisten aller Länder entgegenzutreten“. 

Andersson verweist stattdessen groteskerweise auf Roosevelts „New Deal“ nach 1933, der vermeintlich eine probate Strategie gegen negative Auswirkungen kapitalistischer „Marktmechanismen“ entworfen habe. Noch irritierender wirkt die Blindheit beider „Spitzenforscher“ gegenüber den Kausalitäten von Globalisierung und Massenmigration, die Europas instabile Lage offenkundig wesentlich bedingen. Andersson und Godechot hingegen verbinden mit Zuwanderung lediglich eine Zunahme der „Vielfalt an Kulturen und Religionen in den Großstädten“.