© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Locker und lässig ein Land verändern
Kanada: Der neue liberale Premier Justin Trudeau läßt kaum einen Stein auf dem anderen
Katharina Puhst

Bald ein Jahr im Amt und das charmante Lächeln ist noch nicht verblaßt: Kanadas Premierminister Justin Trudeau genießt weiterhin große Popularität in der Bevölkerung. Von 39,5 Prozent der Wahlbeteiligten gewünscht, löste der Liberale seinen konservativen Vorgänger Stephen Harper ab, der von 2006 bis 2015 Regierungschef war und zuletzt nur noch 31,9 Prozent der Wählerstimmen erhielt (JF 44/15). Seither weht ein neuer Wind im Land. Trudeau läßt keinen Stein auf dem anderen. 

Ein Großteil der Kanadier liebt seine lockere Art. Gern läßt sich der Heißsporn mit seinen Fans ablichten – auch gern oberkörperfrei, er läßt keinen öffentlichen Auftritt aus. Die Modezeitschrift Vogue kürte ihn zu einem der zehn attraktivsten „unkonventionellen“ Männer, und der bekannte Marvel-Comicverlag machte ihn im Heft „Civil War II: Choosing Sides“ zum Helden.Durch meditatives Yoga, Auspowern beim Boxen und Jogging sucht sich der 44jährige fit zu halten. 

In der Umverteilung der Steuern, die zu einer stärkeren Belastung der Reichen und zur Entlastung des Mittelstandes führt, sehen viele Bürger einen Akt Robin Hoods. Kanadier, deren Jahreseinkommen zwischen 45.282 und 90.563 Dollar liegt, zahlen seit Januar 2016 nur noch 20,5 Prozent Steuern anstelle der 22 Prozent im Vorjahr. Dadurch entsteht jedoch ein Loch von über drei Milliarden Dollar, für das Mehrverdiener mit einem Jahreseinkommen ab 200.000 Dollar aufkommen müssen. Deren Steuersatz  wurde von 29 auf 33 Prozent erhöht. 

Nationalhymne nun ohne Kanadas „Söhne“ 

Von den Vorteilen der Trudeauschen Wirtschaftsreform unberührt bleiben dennoch nahezu zwei Drittel der Steuerzahler aufgrund ihres zu geringen Jahreseinkommens. Etwa neun Millionen Kanadier haben mehr Geld in den Taschen, verkündete Trudeau nach Angaben des Radiosenders Ici Radio-Canada stolz. Allerdings stehen 17,6 Millionen mit leeren Händen da. Das Kindergeld wurde erhöht, das Rentenmindestalter von 67 auf 65 herabgesetzt und die Sterbehilfe eingeführt. In einem Abkommen mit den USA und Mexiko wurde zudem bis 2025 eine Senkung des Methanausstoßes um mindestens 40 Prozent, gemessen an den Werten von 2012, festgelegt. 

Besonders junge Kanadier sympathisieren mit dem Vater von drei Kindern, der mit einem Tattoo und seinem Einsatz für die Legalisierung von Marihuana als „hipper“ Revolutionär gilt. Anders als Harper, der strengere Gesetze zur Regulierung des Migrantenzustroms erlassen hatte, ließ Trudeau vergangenes Jahr 15.000 syrische Flüchtlinge – meist Familien – ins Land. Viele von ihnen empfing Trudeau persönlich, um ihnen „offenen Herzens“ eine neue Zukunft zu weisen. 

Trudeau hat sich die gesellschaftliche Gleichheit auf die Fahnen geschrieben. Als überzeugter „Feminist“ besetzte er deshalb den Ministerrat mit fünf Männern sowie 15 Frauen und ernannte im Juni Jennie Carignan zur ersten Führerin der kanadischen Bodenkampftruppen. Der älteste Sohn von Pierre Trudeau, der mit kurzer Unterbrechung von 1968 bis 1984 Premier war, zeigt sich auch als Anhänger der gendergerechten, geschlechtsneutralen Sprache. Entsprechend beschloß die Mehrheit der regierenden Liberalen Partei im Unterhaus Mitte Juni eine Änderung der Nationalhymne „O Kanada“. Aus der Vaterlandsliebe der „Söhne“ wird entsprechend „unsere“. Mit gleicher Verve setzt sich der Premier für die Rechte der LGBT (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender) ein und nahm Anfang Juli an der „Gay Pride“ in Toronto teil. Erstmalig in der Geschichte Kanadas hißte ein Regierungschef vor dem Parlament die Regenbogenflagge als Ausdruck der Toleranz. Ein weiteres Ziel sei es, genderneutrale Personalausweise einzuführen, erklärte Trudeau dem Nachrichtensender CablePulse24.

Konservative verharren in Schockstarre

Gwen Landolt, stellvertretende Vorsitzende der konservativen Organisation „Real Women of Canada“, zeigte sich empört und tadelte den 44jährigen als „extremistisch“. Trudeau verstehe nicht, daß er Premierminister von Kanada sei und nicht Premierminister der Homosexuellen, spottete Landolt auf dem Nachrichtenportal LifeSiteNews. 

Doch während Trudeau Kanada Woche für Woche gesellschaftlich umbaut – jüngst hatte er Forderungen von Politikern in der französischsprachigen Provinz Québec nach einem Burkiniverbot brüsk zurückgewiesen – und somit Angriffsflächen bietet, scheint die Konservative Partei Kanadas seit Harpers Schlappe in Schockstarre zu verharren. Bewerber um den Vorsitz der Partei springen gar auf Trudeaus Zug auf. Kellie Leitch, Michael Chong und Maxime Bernier zeigen sich zunehmend offen gegenüber den LGBT und beehrten entsprechend die „Gay Pride“ mit ihrer Anwesenheit. 

Dies wertete Jamie Ellerton, Mitglied der LGBT-Gruppe „LGBTory“, als eine  Art Evolution. Eine parteiinterne Entwicklung, die Rona Ambrose, die bis zur Neuwahl im Mai 2017 die Konservativen übergangsweise anführt, auch noch bestätigte, indem sie ihre Partei als ein „großes blaues Zelt, das allen“ offenstehe beschrieb. 

 Während die USA und das Vereinigte Königreich mit Kampftruppen gegen den Islamischen Staat (IS) vorgehen, den sie eine „völkermordähnliche Einheit“ nennen, verweigert Trudeau die Beteiligung Kanadas am Krieg. In der Politshow „Power & Politics“ bewertete er die Frage, wann er denn je einen militärischen Einsatz unterstützen würde, wenn nicht den gegen den IS, als „unsinnig“. Die Konservativen sehen genau darin eine Schwäche des Liberalen, der „keine Antwort auf den globalen Terror“ biete, obwohl dies das Hauptanliegen und die Pflicht eines Premiers sein müsse, sein Volk und Land zu schützen. Trudeau forderte jedoch seine Kritiker dazu auf, darzulegen, seit wann Kanadas bester Einsatz darin bestehe, an einem Bombenkrieg teilzunehmen.