© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Militärisch eskortierter Fährdienst
Illegale Masseneinwanderung über das Mittelmeer: Wie die Marine mit der Operation „Sophia“ das Geschäft der Menschenhändler bedient
Martin Voigt

Seit Beginn des Jahres 2016 sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) über die verschiedenen Mittelmeerrouten über 272.000 Einwanderer nach Europa gelangt. Seit Inkrafttreten des EU-Flüchtlingsabkommens mit der Türkei Anfang April setzen die meisten Bootsflüchtlinge nicht mehr von der Türkei aus nach Griechenland über, sondern versuchen auf den deutlich längeren Routen von Ägypten oder Libyen aus nach Italien zu gelangen. Aktuell warten 235.000 Menschen auf die nächstbeste Gelegenheit zur Überfahrt nach Europa, sagte der deutsche UN-Sonderbeauftragte für Libyen, Martin Kobler, der italienischen Zeitung La Stampa Mitte September.

Größtenteils sind es Schwarzafrikaner, die an der libyschen Küste von den Wüstenschleusern an die Seeschleuser weitergereicht werden. Das unerlaubte Übersetzen von Stränden in Richtung Europa ist in Libyen eine Straftat; wer geschnappt wird, landet meist im Gefängnis. Daher legen die Migranten im Morgengrauen auf circa zwölf Meter langen Schlauchbooten ab. 120 bis 150 Menschen drängen sich auf den Booten. Um Platz zu sparen, fahren sie oftmals ohne Schwimmwesten, Rucksäcke und Schuhe los. Die Wasserration sei nicht der Rede wert, das Benzin reiche nicht ansatzweise bis in italienische Gewässer, berichtet eine Reportage der Schweizer Weltwoche. Doch es soll auch gar nicht reichen. Denn wenn alles nach Plan läuft, wechseln die Passagiere kurz nach der Zwölf-Meilen-Zone das Wasserfahrzeug.

Tausende Menschen sind im Rahmen der EU-Operation „Sophia“ vor der libyschen Küste aus Seenot gerettet worden. 6.500 waren es allein an einem Tag Ende August. Der Seenotstatus ist die Trumpfkarte der Schleuserindustrie, die in jedem Fall exorbitante Gewinne einstreicht. Für die Afrikaner, die es bis an die Mittelmeerküste geschafft haben, ist es ein Glücksspiel um Leben und Tod. Nicht immer bleibt das Meer so spiegelglatt wie am frühen Morgen. Und nicht jedes Schlauchboot wird rechtzeitig von der schwach besetzten libyschen Küstenwache, zivilen Schiffen oder den Booten der EU-Mission „Sophia“ entdeckt.

Spanien fährt einen        konsequenten Kurs

Obwohl in den ersten acht Monaten dieses Jahres nicht ganz so viele Personen über die verschiedenen Mittelmeerrouten nach Europa gelangten wie im Vorjahreszeitraum (355.000), forderte die Völkerwanderung in diesem Jahr schon mehr Todesopfer. Die Hoffnung auf „Sophia“ oder die italienische Küstenwache bezahlten bis Ende August bereits 3.156 Menschen mit dem Leben. Im gleichen Zeitraum im Jahr 2015 waren es 2.656. Zumindest lauten so die offiziellen Zahlen der IOM. Wie viele Personen in ägyptischen und libyschen Gewässern oder in der türkischen Ägäis tatsächlich ertranken, ist unbekannt.

Vergleichsweise wenige Tote gibt es in spanischen Hoheitsgewässern. 54 Menschen sind 2016 auf dem Weg von Marokko Richtung Málaga ertrunken. Das war nicht immer so. Spanien hatte vor zehn Jahren einen Flüchtlingsansturm auf die Kanarischen Inseln aus Westafrika erlebt. Tausende Menschen ertranken. Zehntausende Einwanderer ließen die Urlaubsinseln nahezu kollabieren. Seitdem fährt die spanische Regierung einen konsequenten Kurs: Seeblockaden, die schnelle Abschiebung illegaler Einwanderer und Entwicklungshilfe in den Herkunftsländern haben die Migrantenströme erfolgreich und dauerhaft reduziert.

Nach wie vor patrouillieren spanische Schiffe und Flugzeuge vor Westafrika und Marokko. Während die Schlauchboote noch in Küstennähe gestoppt und zurückgeschleppt werden, fließt millionenschwere, spanische Entwicklungshilfe nach Westafrika, flankiert von drastischen TV-Spots: „Tausende sind auf der Reise gestorben. Riskiere nicht dein Leben für nichts und wieder nichts. Du bist die Zukunft Afrikas.“ Die Schockbilder von toten Einwanderern verfehlten ihre Wirkung in der westafrikanischen Bevölkerung nicht.

Gegenteilige Signale sendet die Operation „Sophia“ über den afrikanischen Kontinent. Eigentlich soll die Operation, die ihren Namen einem somalischen Mädchen verdankt, das im August 2015 an Bord der Fregatte „Schleswig-Holstein“ zur Welt kam, kriminelle Schleusernetzwerke vor der libyschen Küste bekämpfen. Seit Beginn der von EU-Staats- und Regierungschefs im April 2015 beschlossenen Mission im Rahmen der Gesamtstrategie European Union Naval Force Mediterranean (EUNavfor Med) haben die Hinweise der aufklärenden Schiffe, Flugzeuge und Hubschrauber zur Festnahme von 87 Schleusereiverdächtigen durch italienische Behörden geführt. Auf hoher See haben Einheiten des Verbands außerdem ganze zwei unbedachte Boote mit Außenbordmotor beschlagnahmt und deren fünf Insassen an die italienischen Behörden übergeben.

Unterm Strich ist „Sophia“ aber einer der größten Seenotrettungseinsätze der Geschichte. Allein die am Einsatz beteiligten deutschen Marinesoldaten haben bis zum Stand vom 13. September 17.972 Menschen aus Seenot gerettet. Der Schleuserkriminalität ist auf hoher See indessen nicht beizukommen. „Bei der Erfüllung unseres Auftrags bekämpfen wir leider nur die Symptome dieses menschenverachtenden Geschäfts“, sagt Fregattenkapitän Thorsten Eidam dem Onlineportal „Bundeswehr im Einsatz“. „Auf der hohen See kommen wir dort zum Einsatz, wo das Geschäft der Schlepper bereits gemacht und das Geld bereits geflossen ist.“ Allenfalls bekomme man „kleine Fische“ zu fassen, aber nicht die „großen Haie“ an Land.

Ungeachtet der offensichtlichen Divergenz zwischen dem theoretisch formulierten Einsatzziel und der realen Verpflichtung zur Seenotrettung hat der Rat der Europäischen Union im Juni 2016 beschlossen, das Mandat der Operation bis zum 27. Juli 2017 zu verlängern. Auch der Deutsche Bundestag beschloß Anfang Juli, daß sich die Bundeswehr weiterhin an der Operation „Sophia“ beteiligen werde. Allerdings darf die Bundeswehr auch weiterhin nur auf hoher See agieren.

Die Operation „Sophia“ ist in drei Phasen eingeteilt. Phase I galt der Aufklärung und Informationsgewinnung. Drei Monate lang observierten vier Kriegsschiffe, zwei Flugzeuge und drei Hubschrauber eine Fläche so groß wie die Bundesrepublik. Ausgehend von dem gewonnenen Lagebild über die Netzwerke der Schleuser befindet sich „Sophia“ seit Oktober 2015 in Phase IIa. Die 1.100 Soldaten der 24 beteiligten europäischen Nationen dürfen seitdem Boote anhalten, durchsuchen, beschlagnahmen und umleiten, wenn der Verdacht besteht, daß sie für Menschenhandel oder Menschenschmuggel benutzt werden. Allerdings dürfen sie das nur auf hoher See, also außerhalb der hoheitlichen Zwölf-Meilen-Zone vor der libyschen Küste.

Großbritannien drängt auf Lösung durch Abschreckung

Da hinein dürften die EU-Schiffe nur, wenn eine anerkannte libysche Einheitsregierung zustimmte oder der UN-Sicherheitsrat eine entsprechende Resolution beschlösse. Das wäre dann Phase IIb. Ein entsprechender Vorstoß scheiterte im Mai 2015 allerdings am Veto von Rußland und dem kommunistischen China, beide ständige Mitglieder des Sicherheitsrats, die somit eine Lösung des drängendsten Problems für Europa blockierten. Phase III ist völkerrechtlich problematischer, denn diese sieht vor, dann auch an Land gegen von Schleppern genutzte Boote und zugehörige Gegenstände vorzugehen.

Seit bald einem Jahr und gemäß Beschluß noch bis Juli 2017 patrouillieren die Schiffe und Flugzeuge der Operation „Sophia“ zwölf Seemeilen vor Libyens Küste und warten auf die randvoll besetzten Flüchtlingsboote, die ihnen mit 55-PS-Außenbordern entgegentuckern. „Um die Schleuserkriminalität effektiv bekämpfen zu können, müßte der Operationsplan mindestens in Phase IIb übergehen“, sagte ein Sprecher des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr der JUNGEN FREIHEIT. Die politischen Voraussetzungen lägen hierfür derzeit nicht vor.

Der Übergang in weitere Phasen bedarf einer erneuten Entscheidung des Rates der EU für Auswärtige Angelegenheiten. Wann und ob solch eine Resolution überhaupt beschlossen wird, konnte das Auswärtige Amt nicht mitteilen. Seit Juni bilde die Operation „Sophia“ jedoch die libysche Küstenwache und Marine in der Schleuser- und Schmuggelbekämpfung aus.

Dies sei von entscheidender Bedeutung für die Wiederherstellung der Sicherheit in Libyen, denn der lukrative Menschenhandel sei „mit dem Terrorismus eng verflochten“, mahnte der deutsche Sonderbeauftragte, Martin Kobler.

Die indirekte Finanzierung des islamistischen Terrors über ein Schleppersystem, das die Seenotrettung durch die EU in dessen Geschäftsmodell einbezieht, stößt zunehmend auf Kritik. Am vergangenen Wochenende sprach sich Großbritanniens Außenminister Boris Johnson gegenüber seinem italienischen Kollegen Paolo Gentiloni dafür aus, die Flüchtlingsboote nach Libyen zurückzudrängen. Das ist jedoch nur möglich, solange sie keine internationalen Gewässer erreicht haben. Danach dürfen sie nicht mehr zur Umkehr gezwungen werden. „Ich denke, die Boote sollten so nah an die Küste zurückgeschickt werden wie möglich, so daß sie das italienische Festland nicht erreichen, und das ist mehr als eine Abschreckung“, sagte Johnson, dessen Regierung mit zwei Kriegsschiffen an der Operation „Sophia“ beteiligt ist.





Schleuserrouten von Nordafrika nach Europa

Der Migrationsdruck auf Italien hält an: Im August erreichten 23.000 Illegale über die zentrale Mittelmeerroute die italienischen Ufer. Das sind ähnlich viele wie im gleichen Monat des Vorjahres (Daten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex). Die Gesamtzahl der in den ersten acht Monaten des Jahres auf der Zentralen Mittelmeerroute entdeckten illegalen Migranten betrug 117.900, nahe der Zahl aus dem gleichen Vorjahreszeitraum. Libyen ist mit großem Abstand das Hauptabreiseland. Die meisten Migranten auf dieser Route stammten aus Nigeria, gefolgt von Eritreern und Bangladeschern. Die Daten beziehen sich auf illegale Übertritte der Außengrenzen der EU. (ru)