© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Nicht nur die Platte wählte blau
Wahlnachlese: Die Berliner haben die Große Koalition abgewählt / Historisch schwaches Ergebnis für die CDU / AfD-Hochburgen im Osten
Ronald Berthold

Berlin ist speziell. Die Kieze unterscheiden sich stark voneinander. Das landesweite Ergebnis bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus stellt daher nur einen Durchschnittswert dar. Gerade der Anspruch der CDU, eine „moderne Großstadtpartei“ sein zu wollen, erscheint in diesem Zusammenhang höchstens auf die Innenstadtbezirke, also nur einen kleinen Teil des riesigen Stadtgebietes, anwendbar. So schwanken die Ergebnisse von Stadtteil zu Stadtteil erheblich – vor allem für die AfD. Deswegen lohnt in der Hauptstadt ein Blick auf die Besonderheiten, bei denen der Unterschied zwischen Ost und West nur noch bedingt eine Rolle spielt.

Es kristallisieren sich Muster heraus: Die Hochburgen der Berliner AfD liegen sowohl in den gutbürgerlichen Einfamilienhaussiedlungen in beiden Teilen der Stadt als auch in den Plattenbauvierteln im früheren Ost-Berlin. Der Partei gelang es ebenfalls, in den früheren West-Bezirken in die Kernwählerschaft der CDU einzubrechen. Wo die Union dort bisher besonders stark war, ist es nun oft die AfD.

Die Linke dagegen verdankt ihr verbessertes Ergebnis nicht nur ihren alten Hochburgen. Im Westen konnte sie ihr Resultat mit 10,1 Prozent mehr als verdoppeln, während sie im Osten mit 23,4 Prozent fast gleich stark blieb. Daß sie Prozentpunkte gewann, obwohl die AfD ein hohes Ergebnis erzielte, ist neu und offenbar Ausdruck eines auch im linken Lager um sich greifenden Protestes. Als Verzweiflung an den Etablierten erscheint auch der FDP-Erfolg. Die Liberalen punkteten dank ihres Einsatzes für den Flughafen Tegel, zogen aber auch bürgerliche Wähler an, die die CDU aufgrund ihrer Flüchtlingspolitik nicht mehr erreicht, aber nicht AfD wählen wollten.

Grüne sind Gewinner      der Gentrifizierung

Das CDU-Debakel ließ deren Chef Frank Henkel erklären, den Landesvorsitz abgeben zu wollen. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel räumte ein, die Wahlniederlage habe mit ihrer Politik der offenen Grenzen für jedermann zu tun: „Wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen.“ Allerdings bezog sie die Selbstkritik vor allem auf die Kommunikation, praktisch also auf die PR der Masseneinwanderung. An ihrem Kurs möchte sie nichts ändern.

In Berlin haben die Menschen bei ihrer Wahlentscheidung je nach Wohnort unterschiedlich auf diese Politik reagiert. Dabei weisen selbst die Bezirke in sich noch erhebliche Unterschiede auf. Beispiel Neukölln und Tempelhof-Schöneberg: In den prekären Ortsteilen der früheren West-Bezirke, in denen in den Mietskasernen neben Arbeitslosen und Niedriglöhnern auch Studenten, Hipster und Zugezogene leben, blieb die AfD unter ihrem Berliner Durchschnittsergebnis. In den wohlhabenden südlichen Gegenden wie Lichtenrade und Mariendorf bzw. Britz und Buckow erzielte sie dagegen fast durchgängig Ergebnisse jenseits der 20 Prozent und wurde dort sogar in einigen Wahlbezirken stärkste Kraft – ebenso wie in Lankwitz (Steglitz-Zehlendorf). Das sind Stadtteile, in denen die CDU einst bei 50 Prozent landete.

Ähnlich erfolgreich war die AfD in den schmucken Einfamilienhausquartieren in den Ost-Bezirken Treptow-Köpenick und Pankow. Hier punktete sie massiv und wurde mehrheitlich erste Kraft. Die Karte, die die Farben der jeweils stärksten Partei nach den kleinteiligen Wahlbezirken zeigt, ist in diesen von viel Wasser und Wäldern dominierten Ortsteilen fast durchgängig blau.

Einen gewissen Sonderfall stellt Marzahn-Hellersdorf dar, in dem das Durchschnittseinkommen entgegen seinem Ruf über dem Berlin-Durchschnitt und die Arbeitslosenquote unter dem Mittel liegt. Hier wählten sowohl in den edlen Einfamilienhausgegenden wie auch in den Plattenbauten sehr viele Menschen die AfD. Die Partei erreichte im gesamten Bezirk bei den Zweitstimmen mit 23,6 Prozent Platz 1 – zwei Prozentpunkte mehr als „Wahlsieger“ SPD berlinweit. Dennoch berichteten „Experten“ noch am Wahlabend, hier lebten die „sozial Abgehängten“. Die Wahrheit ist, daß Grüne (28,4), Linke (23,4) und SPD (18,2) da ihre Hochburg haben, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist – in Friedrichshain-Kreuzberg. Dagegen fuhr die AfD mit 6,4 Prozent dort ihr landesweit schlechtestes Ergebnis ein. Die Grünen punkteten aber auch in jenen Gegenden, wo durch luxuriöse Altbausanierung, wie rund um den Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg, ein Mieteraustausch zugunsten von gutsituierten Zugereisten vonstatten ging. Insofern sind die Grünen die Gewinner der Gentrifizierung, die sie so stark angreifen.

Über ihrem Gesamtergebnis (14,2 Prozent) landete die AfD im Osten auch in Lichtenberg (19,0) und Treptow-Köpenick (20,5). Dessen Bezirksbürgermeister, Oliver Igel (SPD), stellte fest, „bei so hohen Werten kann man auch nicht mehr davon sprechen, daß irgendwelche Randgruppen die AfD wählen“. Das komme aus der „Breite und Tiefe der Gesellschaft“. 

In acht von zwölf Bezirken wurde sie mindestens in einem Wahllokal zur stärksten Kraft – selbst im einst roten Wedding, das heute zum Regierungsbezirk Mitte gehört. Überdurchschnittliche Ergebnisse erzielten die „Blauen“ im Westen in Spandau mit 16,6 Prozent und in Reinickendorf mit 16,1. Zu Direktmandaten reichte es dort aber nicht. Direkt gewählt wurden fünf Kandidaten in Lichtenberg, Pankow, Treptow-Köpenick und Marzahn-Hellersdorf – dort sogar zwei. 

Berlin hat den Trend gegen die Volksparteien bestätigt

Bei den gleichzeitig stattgefundenen Kommunalwahlen schaffte die AfD in sieben Bezirken den Sprung in die Bezirksämter – auch in Neukölln, wo einst Heinz Buschkowsky (SPD) die Bürgermeisterkette trug. Die SPD stürzte nach dessen Weggang um mehr als zwölf Punkte ab. Das, was auf Landesebene Senatoren sind, heißt in den Bezirken Stadträte. Jeder Bezirk verfügt über einen Bürgermeister, der von einer Art Koalition gewählt wird, und vier Stadträte, die nach Anteil der Wählerstimmen berufen werden. 

Zwar kündigten bereits Vertreter anderer Parteien an, in den Bezirksverordnetenversammlungen den Anspruch der AfD auf die ihr zustehenden Ämter abzulehnen, aber das wäre rechtswidrig. Zu erwarten ist, daß daher Stadtratsposten zunächst unbesetzt bleiben und die abgewählten Politiker dadurch kommissarisch im Amt verweilen.

Abgewählt haben die Berliner auch den Senat aus SPD und CDU. Die Sozialdemokraten verloren 6,7 Prozentpunkte, die Union 5,7. Beide erzielten die schlechtesten Ergebnisse ihrer Geschichte. Gemeinsam kommen beide nur auf 39,2 Prozent; noch einmal weniger als im März in Baden-Württemberg (39,7) und Sachsen-Anhalt (43,3). Berlin hat somit den deutschlandweiten Trend gegen die einstigen Volksparteien bestätigt.

Die Regierung wird die SPD trotz ihres mageren Ergebnisses – es ist das niedrigste, das es jemals für die stärkste Partei bei einer Wahl nach dem Krieg in Deutschland gab – weiterführen können. Allerdings reicht es nur zu einer Dreierkoalition. Wahrscheinlich läuft es auf ein Bündnis mit den ebenfalls gestutzten Grünen (minus 2,4) und der siegreichen Linken (plus 3,9) hinaus. Zusammen kommen diese Parteien auf 52,4 Prozent.





„Hart in der Sache“

„Offensichtlich sprechen wir die Sprache des Mannes auf der Straße“, resümierte AfD-Spitzenkandidat Georg Pazderski am Montag das „sensationelle Ergebnis“ seiner Partei. Nun sei man auch in den Großstädten angekommen. Die Tatsache, daß die AfD erneut bisherige Nichtwähler mobilisiert und so die Wahlbeteiligung erhöht habe, mache sie zum „größten demokratischen Projekt der jüngsten Zeit“. Noch einmal betonte Pazderski, seine künftige Fraktion werde keine Fundamentalopposition betreiben. Aber: Wer versuche, nur einfach „weiter so“ zu machen, der werde ein Problem mit der AfD-Opposition bekommen.„Wir strecken jedem die Hand aus; wir werden hart in der Sache und fair im Umgang sein. Das ist der Auftrag der Bürger, dafür können sie uns beim Wort nehmen.“