© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Volksparteien ohne Volk
Die Wahlerfolge der AfD offenbaren eine Vertrauenskrise und erzwingen Kursänderungen
Dieter Stein

Die Bundeskanzlerin will den Satz „Wir schaffen das“ nicht mehr wiederholen. Die vor einem Jahr so leichthin ausgesprochenen Worte seien zuletzt als provozierend verstanden worden, so Merkel. Es deutet sich nach einer erneuten historischen Wahlniederlage der CDU also ein zaghaftes, atmosphärisches Einlenken bei der Parteichefin an, die bislang stoisch an ihrem Kurs festhielt. 

Panik macht sich nämlich im Konrad-Adenauer-Haus breit. Merkel als Erfolgsgarant der CDU wankt. Jenseits von politischen Idealen und inbrünstig intonierten „Haltungen“ sind etablierte Parteien in erster Linie riesige Jobmaschinen. Viele hundert Karrieren stehen im Bund auf dem Spiel, wenn im kommenden Jahr Verluste in einer Größenordnung ins Haus stehen, die die CDU bei den jüngsten Landtagswahlen kassierte.

Die AfD hat in Berlin den Einzug mit 14 Prozent souverän geschafft und damit in Serie das zehnte Landesparlament erobert. Im Osten der Hauptstadt holte die AfD fünf Direktmandate. In diesem Jahr hat die erst drei Jahre junge Partei bei allen Landtagswahlen zweistellig abgeschnitten und setzt damit ihren Aufstieg ungebrochen fort.

Die Erfolge der AfD wurden nur möglich aufgrund einer über Jahre angewachsenen politischen Entfremdung von den etablierten Parteien. Diese büßen ihren Status als „Volksparteien“ ein, weil sie sich in zentralen Fragen vom Volk entfernt haben. Sinkende Wahlbeteiligungen überdeckten bis vor kurzem die Erosion der Parteibindungen, manche deuteten sie vorschnell als Zeichen der Saturiertheit des Publikums, postmoderner Gelassenheit, entspannten „Laufenlassens“, gemütlicher Entpolitisierung. Doch tatsächlich staute sich unter der scheinbar glatten Oberfläche Frust und Empörung auf – es fehlte nur noch der Adressat für eine abweichende Wahlentscheidung, der Kristallisationspunkt für den Ausbruch. 

Etablierte Politiker hatten sich in den letzten Jahrzehnten träge in beamtenartigen Lebensläufen eingerichtet, Wahlergebnisse schwankten, von seltenen Ausreißern abgesehen, nur schwach, der Austausch von Stimmanteilen erfolgte in kommunizierenden Röhren zwischen den in unterschiedlichen Koalitionen miteinander verknüpften Parteien, die Fraktionen ähnelten Erbhöfen. Längst vergessen schien dabei der eherne Verfassungsgrundsatz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Das Volk entscheidet, wer im Parlament seinen Willen vertreten soll, und es steht diesem Volk frei, notfalls bei Wahlen einen grundlegenden Austausch der Vertreter und auch ganzer Parteien vorzunehmen, wenn diese gegen die Interessen des Volkes Politik machen, sich über Bürger hinwegsetzen.

Wie schon bei der den Interessen der deutschen Sparer und Steuerzahler zuwiderlaufenden, juristisch und ökonomisch verantwortungslosen Euro-Rettung löste die dauerhafte Aushebelung geltenden Rechtes beim Ansturm Hunderttausender illegaler Einwanderer im Zuge der Flüchtlingskrise eine enorme Wählerwanderung aus.

Die Demokratie fußt auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Bei einem intakten demokratischen Staat übt das Staatsvolk, repräsentiert durch Parlament, Regierung und Justiz, quasi das Hausrecht aus. Wer erhält Zutritt, wer wird in die Familie zeitweise oder dauerhaft aufgenommen, wer muß wieder gehen, wenn er sich nicht einfügen kann. Die von Angela Merkel geführte Bundesregierung kündigte mit der freihändigen und nie durch den Bundestag legitimierten Aufgabe der Kontrolle über unsere Grenzen die Loyalität einseitig auf und löste einen Alptraum aus – nicht nur bei den Deutschen, sondern auch bei den europäischen Nachbarvölkern.

Die Hoheit über das eigene Territorium, die Frage, wer Aufnahme finden und welchen Regeln er sich unterwerfen soll, ist die Quintessenz politischer Gemeinschaften. Mit Verblüffung müssen die Angehörigen der sich in postnationalen Kosmopolitismus fortphantasierenden politischen Klasse realisieren, daß das Volk offensichtlich eine weitere Verflüssigung nationaler Souveränität nicht wünscht. 

Die AfD ist zweifellos das erfolgreichste parteipolitische, demokratische „Start-up“ seit der Wiedervereinigung in Deutschland. Sie hat das Monopol der Union auf Vertretung des bürgerlich-konservativen Spektrums gebrochen. Eine weitere Linksverschiebung der CDU treibt verprellte Anhänger nicht mehr in die graue Anonymität der Nichtwähler, sondern wird sich in steigenden Wahlergebnissen der AfD manifestieren.

Die jüngsten Wahlen beweisen: Konkurrenz belebt das Geschäft. Die demokratische Marktwirtschaft funktioniert, und dank eines neuen Marktteilnehmers, der AfD, steigt auch wieder die Wahlbeteiligung. Die politische Monotonie hat ein Ende, wir erleben wieder fruchtbare Polarisierungen, echtes Pro und Kontra.

Die AfD sollte jedoch die jüngsten Erfolge demütig analysieren. Sie hatte erkennbar Erfolg mit der Kombination aus klarer Kante, bürgerlichem Profil und besonnen auftretenden Spitzenkandidaten. Die Sorge, sie könne zu einer rechtsradikalen Partei mutieren, dämpfte sie nach zähem Ringen symbolhaft bei der Gedeon-Affäre in Stuttgart, indem sie demonstrierte, daß Antisemiten in ihren Reihen keine Zukunft haben. Sie raufte sich trotz innerer Spannungen und personeller Kontroversen – wie sie zu einer vitalen jungen Partei gehören – seit dem Sommer zu neuer Geschlossenheit zusammen, was ebenfalls den Weg zum Erfolg ebnete. In Berlin zeigt indes eine wiedererstarkte FDP, die mit einem kreativen, offensiven Wahlkampf reüssierte, daß auch die AfD im bürgerlichen Lager nicht alternativlos ist. 

Berlin steht als Modell: Bei der Bundestagswahl droht ein Lagerkampf. Angela Merkel hofft, mit einer Koalition der Willigen, notfalls mit Hilfe von Grünen oder FDP als Dritten im Bunde, überleben zu können. Um den Preis des weiteren Niedergangs der CDU, deren Erbschaft die AfD dabei ist anzutreten.