© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Der Flaneur
Heimattreue halten durch
Bernd Rademacher

Vor 700 Jahren wurde dem kleinen Flecken im Nordwesten das Stadtrecht verliehen. Das muß gefeiert werden. Am Vortag paradieren sämtliche Vereine des Örtchens die Hauptstraße entlang: Die Vertreter der Schützen, der freiwilligen Feuerwehr, des Heimatvereins und die Zuschauer bewahren bei sengenden 30 Grad noch Haltung, auch wenn einige Köpfe bedenklich rot leuchten. Die alten Damen des Heimatvereins trotzen der Glut in voller Tracht samt Kopfhaube. Unbeeindruckt ziehen sie schnatternd und lachend durch die flirrende Hitze. Sie ernten sportlichen Respekt.

Dem emsigen Heimatverein ist es zu verdanken, daß die Gemeinde vor den schlimmsten Bausünden der Nachkriegszeit verschont geblieben ist. So drängen sich windschiefe Fachwerkhäuser, aufgereiht an verwinkelten Gäßchen, um die Kirche von 1628. In die Eichenbalken sind jahrhundertealte plattdeutsche Sinnsprüche geschnitzt. Alles hier ist picobello, dabei ist das Kaff nicht gerade mit Steuereinnahmen gesegnet.

Robuste Trachten-Omas sitzen vor einem Hoftor und spinnen Flachs wie vor 200 Jahren.

Am nächsten Tag beginnt das große Fest schon am frühen Vormittag. Die Bierwagen sind dicht umlagert. Hektik auf der Hauptbühne bei der Festlegung des Programmablaufs. Alle wollen ihre Auftrittszeit wissen: die Turnmädels der Schule, der Liedermacher mit seiner Klampfe, der Nachwuchs-Komödiant, die lokale Rockband, der Männerchor. Bratwurstduft zieht um die Häuser. Die robusten Trachten-Omas sitzen vor einem Hoftor und spinnen Flachs wie vor zweihundert Jahren. Einem Feuerwehrjungen ist aufgetragen, ihnen regelmäßig einen kühlen Klaren zu holen.

Zehn Stunden später sitzen sie immer noch so da – unverwüstlich! Gegen Mitternacht kündigt sich mit Wetterleuchten ein Gewitter an. Minuten später setzt der Platzregen ein. Alles rennet, rettet, flüchtet unter Dach. Doch eine Viertelstunde später ist es wieder vorbei; das Licht am Bierwagen geht erneut an, und die kurzzeitig verwaiste rollende Theke ist dicht umschwärmt wie zuvor.