© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

„Die meisten tun, als sähen sie den Stern nicht“
Vor 75 Jahren wurde im Deutschen Reich die Sterntragepflicht für Juden eingeführt
Konrad Löw

Die „Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden“ vom 1. September 1941 machte vom 19. September an allen Juden, die das sechste Lebensjahr vollendet hatten, das Tragen des Davidsterns, eines handflächengroßen sechszackig zugeschnittenen gelben Stoffs mit der Aufschrift „Jude“, zur Pflicht. Damit sollten die Stigmatisierten für jedermann mühelos als Glieder der jüdische „Rasse“ erkennbar dem Volkszorn ausgeliefert werden. Bei Zuwiderhandlung drohte eine Geldbuße oder Haftstrafe von bis zu sechs Wochen.

Dieser Erlaß, der nicht einmal der Reichsvereinigung der Juden schriftlich bekanntgemacht wurde, kann als der große Gesinnungstest gewertet werden. Alle bisherigen spektakulären Maßnahmen blieben den Blicken der Mehrheit verborgen. Der Boykott 1933 dauerte nur einen Tag und beschränkte sich weitestgehend auf die großen Geschäfte in den Städten. Wer dort nichts zu tun hatte, dürfte, wenn überhaupt, nur durch die gleichgeschaltete Presse oder fragwürdiges Geflüster dürftig informiert worden sein. Auch die Nürnberger Gesetze des Jahres 1935 schlugen selbst in jüdischen Kreisen keine hohen Wellen, schufen sie doch scheinbar einen legalen Modus vivendi für die in Deutschland lebenden Juden. 

Sternpflicht machte die Judenverfolgung öffentlich

Der Pogrom vom November 1938 hingegen verbreitete Furcht und Schrecken. Wohl alle Juden Deutschlands waren zumindest psychisch davon betroffen. Doch für die Nichtjuden war dieser Akt der Barbarei eine Episode weniger Tage, auch wenn der sprunghaft ansteigende Exodus die Brutalität der Machthaber vielen abstoßend vor Augen führte. Die Deportationen ab 1941 fanden – aus guten Gründen – weitestgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Doch die Sternpflicht erfaßte Zehntausende und endete erst nach Jahren mit dem Untergang des Reiches. Die „arischen“ Erwachsenen wie ihre Kinder, soweit sie in Städten lebten, sind Stigmatisierten begegnet und hatten so Gelegenheit, eingetrichterten Haß auszukosten.

Der gleichgeschaltete Rundfunk berichtete, die Einführung des gelben Sterns sei von der Bevölkerung positiv aufgenommen worden. Doch wie war es wirklich? Eine stattliche Zahl Betroffener hat die eigenen Erfahrungen als Sternträger aufgezeichnet. Solche Dokumente gibt es aus allen Teilen des Reiches, so aus Berlin, Hamburg, München, Dresden, Königsberg oder Breslau. Es überrascht, wie sehr sie im Kern übereinstimmen, zuerst Scheu und Scham, doch dann: In Dresden ist es Victor Klemperer, der unter den jüdischen Chronisten der Verfolgung mit seinen Tagebuchnotizen unbestritten den ersten Platz einnimmt. Seine Eintragung vom 18. September 1941: „Ich will nur im Schutz der Dunkelheit ein bißchen Luft schöpfen …“; 23. September: „Ich fuhr gestern wirklich (...) mitten durch die Stadt und kaufte bei Heckert, Paschky und Günzel ein. Nirgends eine Kränkung.“ Was Klemperer von Berlin zu wissen glaubt (7. Oktober 1941): „Die Passanten sympathisierten mit den Sternträgern“, bestätigt die in Berlin lebende und dort schließlich untergetauchte Inge Deutschkron mit ihrem Buch „Ich trug den gelben Stern“. Zahlreiche Episoden faßt sie in den Satz zusammen: „Vor der Berliner Bevölkerung hatten wir keine Angst.“

Zurück zu Klemperer. Eintrag vom 1. November, also nach sechs Wochen: „Vorgestern das erstemal leicht angepöbelt. Am Chemnitzer Platz eine Riege Pimpfe. ‘Ä Jude, ä Jude!’ Sie laufen johlend auf das Milchgeschäft zu, in das ich eintrete. (...) Als ich herauskomme, stehen sie in Reih und Glied. Ich sehe ihren Führer ruhig an, es fällt kein Wort.“ Dann folgen Tröstungen.

Goebbels gestand sich bald Mißerfolg der Aktion ein

Die Münchner betreffend notierte Else Behrend-Rosenfeld am 21. September: „Die meisten Leute tun, als sähen sie den Stern nicht, ganz vereinzelt gibt jemand in der Straßenbahn seiner Genugtuung darüber Ausdruck, daß man nun das ‘Judenpack’ erkennt. Aber wir erlebten und erleben auch viele Äußerungen des Abscheus über diese Maßnahme und viele Sympathiebekundungen für uns Betroffene. (...) Mir scheint, daß jedenfalls in München die jetzigen Machthaber mit dieser Verfügung nicht erreichen werden, was sie bezwecken: die vollkommene Verfemung der Juden durch die Menge des Volkes. Doch kann man nach drei Tagen darüber noch kein endgültiges Urteil abgeben.“

Vier Wochen später: „Ich überlas die letzten Zeilen, die ich das letzte Mal geschrieben habe, und kann hinzufügen, daß ich recht behalten habe. Die Bevölkerung tut, als sähe sie den Stern nicht. Viele Freundlichkeit in der Öffentlichkeit und noch viel mehr im geheimen werden uns erwiesen, Äußerungen der Verachtung und des Hasses uns gegenüber sind selten.“ 

Die „Meldungen aus dem Reich“, in denen der Sicherheitsdienst der SS anhand von Stimmungsberichten aus der Bevölkerung geheime innenpolitische Lageberichte anfertigte, bestätigten fast überall negative Einschätzungen der Judenstern-Aktion, ganz besonders in katholisch dominierten Regionen des Reiches. Diese kritische Haltung der Bevölkerungsmehrheit wurde auch seitens der Hauptverantwortlichen zähneknirschend wahrgenommen. Reichs-propagandaminister Joseph Goebbels mußte sich und seinem Führer schließlich eingestehen: „Die Einführung des Judensterns hat genau das Gegenteil von dem bewirkt, was erreicht werden sollte, mein Führer! Wir wollten die Juden aus der Volksgemeinschaft ausschließen. Aber die einfachen Menschen meiden sie nicht.“