© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Abschaffung der Sterblichkeit
Neuformulierung der Faust-Tragödie: Thea Dorn will in „Die Unglückseligen“ das ewige Leben ergründen
Felix Dirsch

Zu den wichtigsten Themen der Literatur gehört seit jeher der Tod – und sein Pendant, die Unsterblichkeit. Die Beschäftigung damit reicht vom antiken Mythos bis zu den großen neuzeitlichen Epen und findet auch in der Gegenwart Widerhall. Traditionell sind es vor allem religiöse Deutungsversuche, die „Kontingenzbewältigung“ (Hermann Lübbe) beabsichtigen, doch seit sich die Molekulargenetik dieser existentiellen Problematik angenommen hat, soll damit nun Schluß sein.

Nicht zufällig ist die Protagonistin von Thea Dorns neuem Roman eine Biologin, die mit der „Hypothese“ (Laplace) Gott nichts anfangen kann und auf eine solche Form der Hybris auch noch stolz ist. Anläßlich eines Forschungsaufenthaltes in den USA lernt die Naturwissenschaftlerin Johanna Mawet eine heruntergekommene Person kennen, die sich später als der 1776 geborene Johann Wilhelm Ritter herausstellt. Er ist ein Zeitgenosse Goethes und seiner berühmtesten fiktiven Figur, über die angesichts der heutigen genetischen Möglichkeiten neu nachgedacht wird. Einen der Schlüsselsätze aus Goethes Faust-Roman („Es wird ein Mensch gemacht“) dechiffriert man schon seit längerem in allen Einzelheiten. Ritters Reden, die der emanzipierten Frau zuerst fremd und wirr erscheinen, legen den Schluß nahe, daß es sich um das Alter ego des Teufels handelt – eine Gestalt, die bei ihr anfänglich höchstens Kopfschütteln hervorruft.

Daß Ritter, der mit Mephisto-gleichen Kommentaren auffällt, ein Schwindler ist, liegt scheinbar auf der Hand. Ein erster Hinweis für die Richtigkeit seiner Angaben findet sich nach der Untersuchung des Genoms des Fremden. Der DNA-Test macht Mawet stutzig. Ihr dämmert erst langsam, daß diese überaus seltsame Begegnung durchaus zu ihrem Lebensthema paßt: der Suche nach technischen Möglichkeiten, dem Menschen Unsterblichkeit zu verschaffen.

Zu den Höhepunkten von Dorns Text zählen die Dialoge zwischen Ritter und seiner so rational ausgerichteten Bekannten. Sie verteidigt das Streben nach einem Leben ohne Tod, betrachtet ewiges Dasein auf Erden als weder banal noch sinnlos. Er hingegen verteidigt das Ewige als Sehnsucht. Endlichkeit darf sich seiner Meinung nach nicht mit Unendlichkeit verbinden. Seine Gesprächspartnerin mutiert aus seiner Sicht folglich zur Unglückseligen, zur Unglückbringenden, ja zur heillos Verlorenen. 

Dem aus einem fernen Zeitalter stammenden Ritter fällt es nicht schwer, eine Gegenperspektive zu den Versuchen einzunehmen, Menschen im Sinne des Human Genome Projects zu vermessen. Er sieht es nicht als Fortschritt, diese im Lichte des Genom-Sequenzierungsunternehmens als bloße Folgen von mehr oder weniger langen Buchstabenreihen zu definieren. Aus seiner Perspektive ist es nicht ratsam, den Alterungsprozeß, der den natürlichen Zellteilungen geschuldet ist, zu stoppen. 

Natürlich ist es bei einem solchen anspruchsvollen Stoff schwer, den Spannungsbogen zu halten. Zeitweise droht die Geschichte zu verflachen. Schließlich kommt es, wie es kommen muß. Die beiden grundverschiedenen Hauptgestalten nähern sich einander an, bis hin zum Intimverkehr. Die Anfangsvierzigerin wird schwanger. Der Embryo ist nicht gesund. Mawet ahnt nunmehr, daß das Glück doch nicht in der Überwindung des irdischen Lebensendes besteht, sondern in der Bewältigung der Einsamkeit auf Erden – ein ihr früher ferner, weil trivialer Gedanke. Das ist der Grund, warum sie sich in der einst verhaßten Mutterrolle immer stärker wohlfühlt. Als weiteres Zeichen ihrer Wandlung taucht ein ihr von früher her bekannter Geistlicher auf, den sie nicht ablehnt, obwohl sie gegenüber „Pfaffen“ seit Jahrzehnten Aversionen hegt. 

Der Roman schließt mit dem Ausblick des Erzählers: Die einst selbstbewußte Forscherin ist „doch eben bloß ein Weib“. Der Pakt mit dem Teufel wird vollzogen. Sie ist „Teuflin“, Ritter ihr „Teufel“. Willkommen in der Welt des Irrationalen. Oder doch nicht? Am Schluß erinnert die Agnostikerin Dorn ein wenig an den Aschermittwoch: Gedenke Mensch, daß du aus Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst! Damit ist eine Antwort auf die Suche nach Unsterblichkeit und ihrer Wünschbarkeit wenigstens in Umrissen greifbar.

Dorn ist eine grandiose Neuformulierung des Faust-Epos im Zeitalter der synthetischen Biologie gelungen, in dem Gen-Ingenieure unser Leben revolutionieren. Futuristisch anmutende Möglichkeiten werden mehr und mehr Realität. Dies wird in dem (wie immer auch überspitzten) Text bemerkenswert deutlich. Die in einigen Rezensionen geäußerten Einwände, etwa gegen die vielfältigen Sprachstile, die von gängigen Rede- und Formulierweisen von vor zweihundert Jahren bis zu heutiger naturwissenschaftlicher Fachterminologie reichen, können über die nur schwer auszulotenden, großartigen Tiefendimensionen der Erzählung nicht hinwegtäuschen. Die 46jährige Autorin hat mit „Die Unglückseligen“ ihre bisher eindrucksvollste Schrift vorgelegt. 

Thea Dorn: Die Unglückseligen. Roman. Albrecht Knaus Verlag, München 2016, gebunden, 560 Seiten, 24,99 Euro