© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Europäisierung durch die Hintertür
Normierung der Gesundheit: Kommission und EuGH schaffen Fakten ohne Legitimation nationaler Parlamente
Achim Sohns

Die EU-Integration nimmt inzwischen auf verschiedenen Wegen Einfluß auf die nationalen Gesundheitssysteme und findet praktisch durch die Hintertür direkten Zugang zu den Kernbereichen nationaler Gestaltungshoheit. Dieser Befund steht im Kontrast zu Feststellungen im europäischen Vertragswerk selber, wonach die Gesundheitspolitik, die Organisation des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung weiterhin in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten der EU verbleiben sollen (Art. 153, 168 Abs. 7 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union/AEUV).

Gesundheitsbinnenmarkt mit unabsehbaren Folgen

Die vormals separierten nationalen Gesundheitssysteme werden zunehmend in den EU-Binnenmarkt „entgrenzt“ – und das weitgehend unbeobachtet und ohne parlamentarische Zustimmungsverfahren in den Mitgliedsstaaten. Auf der anderen Seite erhält die europäische Ebene einen wachsenden Einfluß bei der Definition und Regulierung der heimischen Gesundheitsversorgung.

Unsere „Gesundheit“ ist, wenngleich dieser Bereich in den europäischen Verträgen als ein inkonsistenter Flickenteppich von Einzelpolitiken erscheint, mittlerweile systematisch in die Handlungen und Politiken der EU-Kommission einbezogen und steht überdies in hohem Maße unter dem Einfluß der Binnenmarktpolitik sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).

Das oberste rechtsprechende Organ der EU in Luxemburg hat durch eine Reihe von Urteilen, in denen der EuGH die primär „gesundheitsfremde“ Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit auf die Gesundheitsversorgung angewendet hat, faktisch einen nahezu einheitlichen EU-Gesundheitsbinnenmarkt geschaffen und damit die einst ehernen Prinzipien der Territorialität und Souveränität auch in diesem sensiblen Politikbereich dauerhaft durchbrochen. Die maßgeblichen Entscheidungen des EuGH (Rechtssachen) sind folgende Urteile:

l Molenar (C-160/96): Deutsche Pflegeversicherung wird zum Export von Pflegegeld ins europäische Ausland verpflichtet (Niederlassungsfreiheit in Artikel 43 EG-Vertrag/AEUV).

l Kohll (C-120/95): Freier Dienstleistungsverkehr (Artikel 49 EG-Vertrag/AEUV) für ambulante medizinische Leistungen.

l Decker (C-158/96): Freier Warenverkehr (Artikel 23 EG-Vertrag/AEUV) für medizinische Güter.

l Vanbraekel (C-368/98) und Geraets-Smits/Peerboms (C-157/99): Grundsätzliche Nachfrageberechtigung für eine Krankenhausbehandlung im europäischen Ausland.

l Müller-Faurét/van Riet (C-385/99): Bei ambulanten medizinischen Behandlungen ist ein nationaler Genehmigungsvorbehalt für Behandlungen im europäischen Ausland unzulässig.

l Watts (C-372/04): Ansprüche bestehen unabhängig von der jeweiligen Form des nationalen Gesundheitssystems (Sozialversicherung wie in Deutschland oder öffentlicher Gesundheitsdienst durch die Provinziallandtage sowie die Gemeinden wie in Schweden).

Die Leistungserbringer (niedergelassene Ärzte und Zahnärzte, Apotheken, Krankenhäuser oder Sanitätshäuser) sowie die Krankenversicherungen und Gesundheitsdienste werden damit grundsätzlich – ungeachtet ihrer nationalen Sozialschutzfunktion – zu Akteuren im EU-Binnenmarkt. Die EU erweitert dadurch eigeninitiativ ihre Zuständigkeiten, erschließt neue Handlungsfelder und greift damit direkt in die Organisation der nationalen Gesundheitssicherungssysteme ein. Die Mitgliedstaaten verlieren folglich in hohem Maße Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten.

In der Folge der EuGH-Rechtsprechung kam es auf Initiative der Kommission 2011 zum Erlaß einer EU-Richtlinie „über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“. Hauptziel war, die via EuGH erzwungene Öffnung der Gesundheitsmärkte einheitlich in allen EU-Mitgliedsstaaten durchzusetzen. Der Schwerpunkt liegt auf der Förderung der Patientenmobilität zwischen den EU-Staaten durch konsequenten Ausbau der für Deutschland systemwidrigen grenzüberschreitenden Kostenerstattung.

Das EU-Wettbewerbsrecht als willkommener Hebel

Die Bundesregierung sieht das positiv, denn es sei „damit zu rechnen, daß unser Gesundheitssystem vermehrt Versicherte aus dem EU-Ausland als Kunden gewinnen kann“. Längere Wartezeiten auf eine Facharztbehandlung oder einen OP-Termin seien auch nicht zu erwarten, da ausländische Patienten nicht vorrangig behandelt werden dürften. Gleichzeitig werden auch Fragen wie Qualitätsstandards, Haftung und Aufsichtszuständigkeiten EU-weit einheitlich geregelt und neue Zuständigkeiten bei der Kommission geschaffen.

Die deutsche Sozialgesetzgebung mußte entsprechend angepaßt werden (etwa Paragraph 13 Abs. 4–6 SGB V). In der weiteren Folge der EuGH-Normierung des Gesundheitswesens als Marktgeschehen droht nun bei allen marktlichen Verhaltensweisen die Beanstandung wegen möglicher Verstöße gegen das EU-Wettbewerbsrecht (C-300/07). Daher sind die Krankenkassen auch bei eher nachrangigen Leistungseinkäufen zu kostspieligen Ausschreibungsverfahren nach dem den EU-Regelungen angepaßten Vergaberecht gezwungen. Spezialisierte Anwaltskanzleien verdienen damit viel – zu Lasten der Beitragszahler.

Weiterhin schwebt das EU-Wettbewerbsrecht wie ein Damoklesschwert über dem gesamten Gesundheitswesen  – und es droht bei spezifischen Reformschritten die Deutungshoheit auch über die Versicherungstätigkeit der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) für sich zu reklamieren (C-244/94).

Aktuell verfolgt die EU-Kommission Bestrebungen, Gesundheitsdienstleistungen europaweit zu „normen“, um eine möglichst „hohe und nachhaltige Qualität von Gesundheitsleistungen“ zu fördern (Arbeitsprogramme 2013, 2014, 2015). Verfahrensweisen und die Erbringung von Leistungen in der Gesundheitsversorgung hängen aber von den Charakteristika und Traditionen der jeweiligen Gesundheitssysteme ab, die in den EU-Mitgliedstaaten aus gutem Grund überaus divergent sind und sich einer Normung zwangsläufig entziehen. In Deutschland würde mit den Normungplänen massiv in bestehendes Sozialrecht eingegriffen, da die Qualitätssicherung bereits integraler Bestandteil des Gesundheitssystems ist (Gemeinsamer Bundesausschuß u.a.).

Es wäre sogar ein Anpassungsdruck nach unten möglich, denn durch Brüssel soll die Gesundheitsversorgung in mindestens 27 Ländern mit einer halben Milliarde Einwohnern – von Helsinki bis Athen, von Lissabon bis Budapest – „normiert“ werden, ein monströses Vorhaben. Ob sich die Bundesregierung, wie jetzt schon Polen, gegen die EU-Bürokratie stellen wird, ist offen.

Positionspapiere der Deutschen Sozialversicherung – Arbeitsgemeinschaft Europa:  www.deutsche-sozialversicherung.de

Patientenmobilitätsrichtlinie (2011/24/EU):  www.bmg.bund.de