© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Islamischer Staat in Bedrängnis
Irak: Nicht immer werden die irakische Armee, kurdische Peschmerga oder schiitische Milizen als Befreier gefeiert
Marc Zoellner

Dichte Rauchschwaden verdunkelten den Himmel über Al-Qayyarah, als die erste Kolonne gepanzerter Fahrzeuge die Stadt am Tigris erreichte: Gleich Dutzende Ölquellen brannten lichterloh und bedeckten den Großteil der Siedlung mit ihrer teerigen Asche. „Die Asche fällt hier herunter wie Farbpulver“, bestätigte auch Atiyya, eine 33jährige Anwohnerin. Mit siebzehn ihrer Familienangehörigen hatte sie sich die Tage zuvor in einem kleinen fensterlosen Raum ihres Hauses verbarrikadiert und in völliger Dunkelheit bis zum Ende der Offensive der irakischen Armee gegen die Dschihadisten des Islamischen Staats (IS) ausgeharrt.

Doch kaum jemand jubelte, als die regierungstreuen Truppen nach ihrem mühsamen Sieg im Zentrum von Al-Qayyarah paradierten. Kinder umringten die Soldaten, um nach Wasser zu betteln. Die Erwachsenen hingegen versteckten sich hinter Fenstern und Zäunen, beäugten mißtrauisch den Konvoi. Die mehrheitlich sunnitischen Einwohner Al-Qayyarahs fürchten Racheakte der schiitischen Milizen Bagdads – fast mehr noch, als sie die IS-Terrorherrschaft gefürchtet haben.

Dabei hatten nur wenige der Qayyarahis überhaupt mit dem Kalifat sympathisiert, wie auch jüngste Umfragen beweisen. Erst im Januar dieses Jahres hatte eine Erhebung des irakischen Meinungsforschungsinstituts IIACSS ergeben, daß über 99 Prozent der Schiiten des Zweistromlands, aber auch rund 95 Prozent der Sunniten dem IS gegenüber ablehnend eingestellt seien. Doch gleichzeitig zeigten sich 93 Prozent der Sunniten mindestens „besorgt“ über die Stationierung schiitischer Truppen in sunnitischem Kernland, und 41 Prozent der Befragten gaben überdies an, Angst vor Mißhandlungen durch kurdische Peschmerga zu haben.

Wie tief gespalten der Irak in religiöser und ethnischer Hinsicht tatsächlich ist, zeigt der derzeitige Vormarsch von Regierungstruppen und kurdischen Paramilitärs auf die Millionenstadt Mossul; die De-facto-Hauptstadt des Islamischen Staats am Tigris. Als Bagdad und Erbil – die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan – im März 2016 zum Sturm auf die IS-Provinz von Ninive bliesen, gelang es dem IIACSS, auch unter den verbliebenen Moslawis (den Einwohnern Mossuls) eine Erhebung durchzuführen. Das Ergebnis überraschte nicht nur die Bagdader Sozialwissenschaftler: Denn rund 74 Prozent der Einwohner erklärten darin, nicht von der irakischen Armee allein – und einhellige 100 Prozent, nicht von Schiiten oder Kurden befreit werden zu wollen.

Bis zum Jahresende, wiederholte der irakische Ministerpräsident Anfang vergangener Woche auf einer Konferenz noch einmal seine militärische Agenda, wolle das irakische Militär die Metropole Mossul, die sich seit zwei Jahren in der Gewalt der IS-Dschihadisten befindet, befreit haben. Mit der Einnahme Al-Qayyarahs sei ein wichtiger Meilenstein in dieser Kampagne erreicht. Denn die vormals rund 80.000 Einwohner zählende Stadt, in welcher allerdings nur noch 9.000 Menschen verblieben sind, besitzt nicht nur einen regional bedeutsamen Luftwaffenstützpunkt der Armee. Sie liegt überdies gerade einmal siebzig Kilometer von Mossul entfernt. Für deutsche Verhältnisse ein Katzensprung. Für jene im Irak allerdings der sprichwörtliche Gang übers Minenfeld. Im Norden wiederum trennen die Truppen der Peschmerga kaum mehr zehn Kilometer Luftlinie von der Provinzhauptstadt.

Mossul befindet sich im Ausnahmezustand: Immer öfter läßt der IS Videos von barbarischen Bestrafungen abtrünniger Kämpfer, von Deserteuren und Widerständlern im Internet publizieren. Beinahe täglich fliegt die US-geführte Koalition Luftangriffe auf Stellungen des Kalifats in der Stadt. Panikartig evakuiert der IS bereits die ersten seiner Anhänger. „Allein gestern sind über 180 IS-Mitglieder zusammen mit ihren Familien in Richtung der syrischen Stadt Rakka geflohen“, berichtete eine Geheimdienstquelle vergangenes Wochenende dem Nachrichtenblog Iraqi News. Trotz seiner noch immer rund 10.000 in der Stadt stationierten Kämpfer scheint Mossul für den IS auf Dauer unhaltbar.

IS verbietet Burkas in öffentlichen Einrichtungen 

Schuld an der Resignation des IS tragen auch die Moslawis selbst. Mehrere tausend Bürger der Stadt hatten die Extremisten während ihrer Schreckensherrschaft hinrichten, Handys, Internet und Satellitenschüsseln verbieten, aus Angst vor Heckenschützen schlußendlich sogar Burkas aus öffentlichen Einrichtungen verbannen lassen. Doch vergeblich, wie sich zu zeigen scheint. An vielen Mauern prangen mittlerweile Graffiti der arabischen Letter Mim, dem Anfangsbuchstaben des Wortes Muqawama, was sich schlicht übersetzen läßt als „Widerstand“. Seit anderthalb Jahren geistern die „Brigaden von Mossul“ bereits durch die Stadt, verteilen Flugblätter, sprühen ihr Erkennungszeichen an Häuser und Wände – und legen nebenbei effektive Hinterhälte, welche bereits unzählige IS-Anhänger das Leben gekostet haben sollen; darunter Ende Juni dieses Jahres auch Abi Abdul-Rahman al-Kurdi, den Anführer der IS-Milizen in Mossul. Tatsächlich seien selbst schon Vorbereitungen für die „Stunde Null“ getroffen, berichtete einer der Widerstandskämpfer kürzlich dem Nachrichtensender CNN: „Wenn der Angriff beginnt, werden wir diesen von innen her unterstützen.“ Immerhin eine Option für Bagdad, die auch von den Moslawis im Widerstand präferiert wird: daß ihre Stadt sich am Ende selbst zu befreien vermag.