© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Das Leben ist immer der bessere Ausweg
„Ein viertes Kind. Aber mein Studium? Und der Hauskredit? Da dachte ich an Abtreibung“: JF-Reportage über eine geglückte Rettung
Hinrich Rhbohm

Ein Dutzend Stühle stehen um den Terrassentisch. Kinder-Badebekleidung liegt zum Trocknen auf den Steinen. „Wir hatten gestern Besuch“, entschuldigt sich Stefanie Schmidt (Name von der Redaktion geändert) für das noch nicht abgeräumte Geschirr, während sie mit einem Lappen eilig die Krümel des Vortages von der Tischoberfläche wischt. Schnell wird klar: Hier herrscht Leben im Haus. Vier Kinder haben die Schmidts, 11, 9, 5 und 2 Jahre alt, alles Söhne. Daß auch ihr jüngster Sproß das Licht der Welt erblicken durfte, war jedoch nicht selbstverständlich. Denn der Kleine hätte vor zwei Jahren auch Opfer einer Abtreibung werden können. Wirtschaftliche Engpässe hatten Stefanie Schmidt zu der Überlegung gebracht, ihr viertes Kind möglicherweise nicht auszutragen.

„Es war ein Entscheidungsprozeß, der damals völlig offen war“, erzählt die 36jährige der JUNGEN FREIHEIT heute. Und, ja: „Natürlich denke ich heute gelegentlich daran, daß es meinen Sohn unter Umständen nicht gegeben hätte.“ Stefanie Schmidt stammt aus Sachsen-Anhalt, studierte in Magdeburg Sportwissenschaften. Als Basketballerin war die 1,90 Meter große Frau einst in der 1. Bundesliga aktiv. Später zieht sie mit ihrem Mann in einen Vorort von Frankfurt, übernimmt dort in Festanstellung die sportliche Leitung eines Vereins. Für die Leistungssportlerin eigentlich eine Traumkombination. Wären da nicht die für sie ungünstigen Arbeitszeiten gewesen. „Schüler und Rentner machen morgens ihren Sport, aber das Vereinsleben und die Trainingszeiten liegen natürlich in den Abendstunden“, seufzt sie. Gift für das Familienleben.

„Ich war zuviel Powerfrau und zuwenig Ehefrau“

Sie entscheidet sich dazu, noch einmal zu studieren. Deutsch, Mathematik und Psychologie auf Lehramt. Und da passiert es. Noch im ersten Semester wird Stefanie Schmidt ein viertes Mal schwanger. Zu einem für sie denkbar schlechten Zeitpunkt. „Es war ja nicht nur das aufgenommene Studium. Wir waren auch noch gerade im Begriff, ein Haus zu kaufen.“ Hätte die Bank gewußt, daß sie bereits schwanger war, der Kredit für das neue Eigenheim wäre wohl geplatzt, ist sich Schmidt sicher. Zudem sei das Anwesen renovierungsbedürftig gewesen, die Familie habe viel Geld und Arbeit in das neue Eigenheim stecken müssen.

Das Paar verdrängt zunächst die Gedanken über den anstehenden Nachwuchs. „Ich bin auch erst mal nicht zum Frauenarzt gegangen.“ Als die damals noch dreifache Mutter es schließlich doch tat, sollte sich zudem herausstellen, daß sie wohl Zwillinge erwarte. „Das war dann eine Woche Worst Case obendrauf. Alles kam zusammen, wir dachten nur: Oh, Gott. Und dann sieht man rot.“

Plötzlich stand die Möglichkeit einer Abtreibung im Raum. Auch noch, als sich der Verdacht, es könnten Zwillinge sein, später nicht bestätigte. „Wir hatten uns nicht gegen das Kind entschieden. Aber wir hatten Zweifel, ob wir das schaffen können.“

Sie gingen zur Familienberatung, um sich auszusprechen und Lösungen zu finden. Und fanden sie zunächst nicht. „Man hat sich unser Problem angehört. Aber nach Lösungen wurde gar nicht richtig gesucht, eigentlich stand man alleine da.“ Das Paar wollte wissen, was bei einer Abtreibung passieren könne. Und erhielt auch auf mehrfache Nachfrage keine Antwort. „Mit vier Kindern wollen Sie studieren?“, habe man nur skeptisch gefragt. Psychologische Hilfe, so habe es von seiten der aufgesuchten Familienberatungsstelle geheißen, könne man jedenfalls nur im Falle einer Abtreibung zusagen. Nicht jedoch, wenn das Kind auf die Welt komme.

Für Stefanie Schmidt eine zutiefst unbefriedigende Antwort. Sie sucht weiter nach Rat, surft durch das Internet, klickt sich durch einschlägige Foren. In einem davon stößt sie schließlich auf Pro Femina. Schmidt ist begeistert. „Unsere Probleme wurden analysiert, und endlich wurde nach Lösungen gesucht.“ Dabei habe sich herausgestellt, daß sie sich in ihren Aufgaben des Lebensalltags übernehme, zuviel von sich selbst verlange. „Ich bin zuviel Powerfrau gewesen und zuwenig Ehefrau“, ist Schmidt heute überzeugt. Wenn es um ehrenamtliches Engagement ging, war sie stets eine der ersten, die Aufgaben übernommen hatte. Heute nimmt sie sich da mehr zurück und achtet auf zeitliche Freiräume, um sich nicht mit Aufgaben zu überfrachten.

Die Folge dieser Erkenntnis habe für sie zu einem deutlich streßfreieren Leben geführt. „Unsere Familie ist dadurch eindeutig ruhiger geworden. Besonders mein zweiter Sohn hat das sehr genossen.“ Gemeinsam mit ihrer Pro-Femina-Beraterin bespricht Stefanie Schmidt regelmäßig ihre weitere Vorgehensweise, sucht nach Lösungen. Die Kinder von der Schule oder dem Kindergarten abholen? Muß nicht zwingend sie machen. Kinder betreuen und studieren? Auch dafür findet Pro Femina eine Lösung. Der Verein organisiert das nötige Geld für eine Tagesmutter.

Wohnung reinigen? Kann delegiert werden. Eine Putzfrau wird organisiert. Statt sich um den Haushalt zu kümmern, büffelte Stefanie Schmidt nun vormittags für ihr Examen. Dann, wenn die Kinder sich in der Schule und im Kindergarten befanden. „So konnte ich abends für Kinder und Ehemann da sein, statt mich in meinen Büchern vergraben zu müssen.“

Zusätzlich bereichert nun eine Leih-Oma den Haushalt der Schmidts, die die Kinder ehrenamtlich betreut. „Die ist für uns dann tatsächlich zu einer richtigen Oma geworden.“ Eine, die den Kindern auch mal eine Stunde lang ohne Unterbrechung Geschichten vorlese. „Ich lese zwar auch vor, aber keine Stunde, dafür ist die Zeit einfach nicht da.“ Pro Femina habe bei ihr einen „Wandel im Kopf“ bewirkt. Und ihr zu einer Erkenntnis verholfen. „Man vergißt viel zu oft, Ehemann und Ehefrau zu sein.“

Für Stefanie Schmidt ein maßgeblicher Grund, warum es heutzutage so viele Scheidungen gibt. „Die Einstellung der Leute in den Köpfen gegenüber Kindern muß sich in Deutschland ändern, in anderen Ländern ist das wesentlich besser.“ Der Staat lasse die Mütter oftmals alleine. „Es sei denn, du nagst am Hungertuch.“ Die angehende Lehrerin, die ab November ihr Referendariat beginnen wird, wünscht sich auch, daß mehr Rentner mit Kindern zusammengebracht werden, ähnlich wie bei ihrer Leih-Oma. „Wir hatten da sehr viel Glück.“

Glück, dem der 1999 gegründete gemeinnützige Verein Pro Femina mit seiner Beratung und Hilfestellung für ungewollt Schwangere nachhilft. Deren Beraterinnen stehen betroffenen Frauen telefonisch, per E-Mail, in Internetforen, aber auch persönlich zur Seite. Unter anderem ist der Verein Träger des Projekts 1000plus, dessen Ziel es ist, eine Beratungsstruktur zwecks Hilfe für Frauen in Schwangerschaftskonflikten aufzubauen und mit medienwirksamen Kampagnen auf deren Situation sowie auf Würde und Wert eines jeden Menschen aufmerksam zu machen.

„Alles tun und alles geben, um noch mehr zu beraten“

Neben Pro Femina sind an dem am 1. Oktober 2009 gestarteten Projekt der Verein „Die Birke“ sowie die Stiftung „Ja zum Leben“ beteiligt. Zu Beginn habe man sich zunächst als Ziel vorgenommen, eines Tages einmal 1.000 Frauen mit Schwangerschaftskonflikten jährlich zu beraten. Eine „verwegene Idee“ habe man das seinerzeit genannt, wie sich der Pro-Femina-Vorsitzende Kristijan Aufiero an die damalige Aufbruchphase erinnert.

Längst hat 1000plus das einst ausgegebene Ziel übertroffen. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt 2.439 Schwangere, die von 17 Beraterinnen betreut wurden, deren Arbeit ausschließlich aus Spenden finanziert wird. „Wir erinnern diese Frauen dann daran, daß mehr Mut, mehr Kraft und mehr Wille, das Richtige zu tun, in ihnen steckt, als es sich gerade anfühlt“, beschreibt Aufiero die alltägliche Arbeit der Beraterinnen.

Angesichts der Tatsache, daß jährlich noch immer mindestens 100.000 Frauen in Deutschland keine andere Alternative sehen als die Abtreibung, wolle man sich neuen Zielen stellen. Bis zum Jahr 2020 will 1000plus seine Beratungsfälle auf jährlich 10.000 ausbauen. Ein erster Schritt auf diesem Weg ist der sogenannte Verdoppelungsfonds. Dabei handelt es sich um eine Mitte Juli dieses Jahres gestartete Spendenkampagne, durch die der benötigte Mehrbedarf für den weiteren Ausbau des Projekts in Höhe von 328.000 Euro gedeckt werden soll. Das Prinzip dabei: Alle Spenden, die bis zum 15. Oktober für den Beratungsausbau eingehen, werden von einigen besonders engagierten Unterstützern bis zu einer Summe von 164.000 Euro verdoppelt. Wodurch aus jedem gespendeten Euro automatisch zwei werden. Am Engagement soll es jedenfalls nicht scheitern. „Ich kann für mich mit Gewißheit sagen, daß ich entschlossen bin, alles dafür zu tun und alles dafür zu geben, um noch weit mehr Schwangeren die einzigartige Beratung und Hilfe von 1000plus zur Verfügung zu stellen“, kündigt Aufiero an.